Die Anspannung war den Menschen in der Altstadt von Damaskus schon Tage vor dem Weihnachtsfest anzumerken. Obwohl die neuen Machthaber wiederholt versicherten, dass es keine Einschränkungen der christlichen Feiern geben werde, hatten die Bewohner der christlichen Viertel Qassa, Bab Touma und Bab Sharki auf die traditionelle Weihnachtsbeleuchtung an Fenstern, Balkonen und Türen verzichtet. Lediglich Hotels und Restaurants in der Altstadt waren geschmückt. Bei weihnachtlicher Musik und Speisen schaute sogar ein Weihnachtsmann vorbei, um Kinder und Eltern zu erfreuen.
Die kirchlichen Jugendorganisationen, die Scouts, hatten zu Beginn der Adventszeit noch allabendlich mit ihrer Kapelle die Lieder geübt, die traditionell die Umzüge in der Heiligen Nacht und am Weihnachtstag begleiten. Mit Trommeln, Pauken und Trompeten verkünden sie üblicherweise die Frohe Botschaft der Geburt Jesu Christi. Doch dann geschah das Unfassbare: Die jahrzehntelange Macht der Assads verschwand über Nacht, die neuen Machthaber nahmen in Aleppo die Zitadelle ein und zogen ungehindert über Hama und Homs nach Damaskus.
Abwarten und beobachten
Die Bevölkerung war zu Hause geblieben als die "Allianz für die Befreiung von Bilad al Sham" (Levante), die dschihadistische Miliz Haiat Tahrir al-Scham" (HTS) ungehindert ihren Siegeszug bis in die syrische Hauptstadt vortrug. Die ersten Tage herrschte in Damaskus gespenstische Ruhe, bis schließlich zum Freitagsgebet die Massen in die Ommayyaden-Moschee zogen und dem neuen Machthaber, HTS-Anführer Abu Mohammed al-Dschulani alias Ahmed al-Sharaa, zujubelten.
Die Christen "warten ab und beobachten", sagt ein armenischer Christ, der mit seiner Familie am Bab Scharki wohnt. Er sei "vorsichtig optimistisch", so George Jabbour, der die Syrische Gesellschaft der Vereinten Nationen gegründet hat. "Wir müssen aufmerksam sein."
Einen Tag vor Heiligabend geht in der Stadt Skelbieh, die in der Al-Ghab-Ebene im Nordwesten Syriens liegt und mehrheitlich von orthodoxen Christen bewohnt wird, ein Weihnachtsbaum in Flammen auf. Bilder des brennenden Baumes verbreiten sich schnell über die sozialen Medien. Sicherheitskräfte der HTS nehmen usbekische Kämpfer fest und kündigen eine Bestrafung an.
Regierung mahnt zu Ruhe und Respekt
Die neue Interims-Regierung nutzt die Sozialen Medien professionell und verbreitet Aufrufe an die Bevölkerung, sich gegenseitig zu respektieren und friedlich zu bleiben. Für Weihnachten werden landesweit zwei Feiertage angekündigt. Am Tor in Bab Touma in Damaskus, das mit einer großen neuen Fahne behängt ist, werden ein kleiner Weihnachtsbaum und eine Krippe aufgestellt.
Noch am gleichen Abend versammeln sich dort junge Männer mit Holzkreuzen und protestieren laut gegen das Anzünden des Weihnachtsbaums in Skelbieh. Dann formieren sie einen Protestzug und ziehen durch die Altstadt zum Sitz des griechisch-orthodoxen Patriarchats in der Mariamitischen Kathedrale. Patriarch Johannes X. lädt die jungen Leute in das Gotteshaus ein und gemeinsam sprechen sie über die Sorgen und auch den Zorn, der sie umtreibt.
"Wir Christen müssen Respekt einfordern"
Louis B., ein Student, der Film und Fotografie studiert, hält den nächtlichen Umzug mit seiner Videokamera fest. Es sei wichtig, sich Gehör zu verschaffen, meint der junge Mann, der schon als Kind bei den Scouts, den kirchlichen Jugendgruppen, aktiv war. "Wir Christen müssen Respekt einfordern, zu viele haben schon das Land verlassen." Seit Jahren gehört Louis zu den führenden Aktiven bei den Scouts und leitet inzwischen selber Kinder und Jugendliche an. Er betreut die Musikgruppe der Syrisch-Orthodoxen Kirche in Bab Touma, die den Namen "Mar Afram al Syriani" trägt, "Die Syrer des heiligen Ephraim".
Die meisten Gemeinden hätten beschlossen, in diesem Jahr auf die Weihnachtsumzüge der Scouts zu verzichten, berichtet er. Doch seine Musikgruppe hat es sich anders überlegt. "Wir müssen laut sein", sagt Louis. "Wir müssen allen klarmachen, dass wir hier, in diesem Land zu Hause sind."
Am Weihnachtstag, der traditionell in Syrien am 25. Dezember gefeiert wird, hat sich Pater Firas Lutfi in der Lateinischen Kirche, dem Sitz des Franziskanerordens, am Morgen auf die Messe vorbereitet. Dann nimmt er sich Zeit für ein Gespräch. "Wir sind keine Gäste in diesem Land", sagt der Pater, der den Franziskanerorden in Libanon, Syrien und Jordanien leitet. "Wir sind keine Zahlen, hier ist die Wiege des Christentums und wir sind wesentlicher Teil des Fundaments dieses Landes." Damaskus sei "die älteste bewohnte Hauptstadt der Welt", die Bewohner hätten gelernt, "wie man zusammenlebt, wie man auf andere Kulturen eingeht, wie man mit Herrschern und Imperien umgeht".
Der Wechsel kam wie ein Tsunami
Der Wechsel, der sich so schnell vollzogen habe, sei wie ein Tsunami, wie ein Erdbeben gewesen und habe die Menschen zutiefst aufgewühlt. "Vieles ist noch unklar und Details werden wohl erst mit der Zeit bekannt werden", fügt Pater Firas hinzu. Doch hoffe er, dass die Auswirkungen des Umbruchs sich positiv auf Land und Gesellschaft auswirken mögen. Wichtig sei, dass in Syrien das Zivilrecht erhalten bleibe und nicht der Islam mit seinem Gesetz, der Scharia, die Geschicke der Menschen regeln wolle.
"Wir sind ein Mosaik vieler Gruppen und Glaubensrichtungen und alle Syrer sind Bürger dieses Landes", betont Pater Firas. "Alle haben die gleichen Rechte und Pflichten, ob Mann oder Frau." In Gesprächen mit dem UN-Sondervermittler für Syrien Geir O. Pedersen habe er die Forderungen der christlichen Gemeinden vorgebracht: Souveränität des Landes, Einheit und eine Verfassung für alle Syrer, mit gleichen, zivilen Rechten. Das gleiche habe er der US-Delegation gesagt, die ihn zu einem Gespräch eingeladen habe. "Unser Land und die Menschen brauchen Einheit und Versöhnung. Wir müssen unser Land und unsere Familien wiederaufbauen und auch unsere Herzen, unsere Seelen müssen heilen."
Mit Hoffnung zum Wiederaufbau
Auf die Frage, welche Botschaft er im Weihnachtsgottesdienst verkünden will, lächelt Pater Firas: "Weihnachten verbreitet Hoffnung, und ich möchte die Hoffnung auf Gott weitergeben. Der Glaube stärkt uns für den Marsch zum Frieden, zur Versöhnung, zum Wiederaufbau und für die Einheit unseres Landes." Hatte die nächtliche Weihnachtsmesse viele Besucher angezogen, sind an diesem Morgen nur wenige Gläubige in die Lateinische Kirche gekommen. Ruhig stehen sie in den Kirchenbänken und lauschen dem Gesang des Kirchenchors.
Auf der Bab Touma-Straße stellen sich derweil die Scouts - Mädchen und Jungen - mit ihren violetten und gelben Fahnen auf. Nach Trommelwirbel und Paukenschlägen setzen die Bläser ein. Rhythmus und Melodie ziehen die Zuschauer in den Bann, die sich auf den schmalen Gehsteigen drängen. Handys ragen in die Luft und halten den Marsch der jungen Leute auf Bildern und Videos fest. Schon bald werden die Aufnahmen an Freunde und Verwandte in aller Welt verschickt. "Fürchtet Euch nicht", trommeln die syrischen Scouts des Heiligen Ephraim ihre Botschaft in den Morgen und marschieren langsam und diszipliniert in Richtung des Bab Touma-Tors.