Caritas International fordert mehr Aufmerksamkeit für Syrien

"Da geht es um alles"

In Syrien dauert der Bürgerkrieg in der Provinz Idlib mit Unterstützung internationaler Kräfte an. Gerade im jetzt beginnenden Winter trifft es die Menschen dort ganz besonders hart, weiß Angela Gärtner, die gerade von dort zurückgekehrt ist.

Kinder in einem Flüchtlingslager in Idlib / © Moawia Atrash (dpa)
Kinder in einem Flüchtlingslager in Idlib / © Moawia Atrash ( dpa )

DOMRADIO.DE: Sie waren in Aleppo und Homs. Wie ist denn die Situation im Moment in Syrien? Gibt es dort ganz aktuell kriegerische Auseinandersetzungen?

Angela Gärtner (Syrien-Referentin bei Caritas International): Im Großteil des Landes sind tatsächlich die akuten Kampfhandlungen beendet. Aber in der Region Idlib gibt es weiter tägliche Kampfhandlungen, Luftangriffe auch mit vielen Opfern. Und im Nordosten, in dem Grenzgebiet zur Türkei und dem Irak, gibt es auch immer wieder verschiedene Konflikte.

DOMRADIO.DE: Wie sieht es mit der humanitären Lage vor Ort aus? Der Winter steht jetzt auch dort vor der Tür. Wie groß ist die Not?

Gärtner: Da kann man einfach nur mit "katastrophal" antworten. Der Winter steht vor der Tür. Er ist schon fast da. Nachts wird es richtig kalt. Die Leute haben keinen Strom. Die haben keine Heizung. Sie haben wenig zu essen. Das kann man sich, glaube ich, ausmalen. Da geht es um alles.

DOMRADIO.DE: Man kann sich auch ausmalen, dass es den Kindern im Bürgerkrieg und den Unruhen nicht besonders gut geht. Beschreiben Sie mal die Lage.

Gärtner: Die Lage der Kinder ist schwer mit anzusehen. Selbst in den Gebieten, wo es ruhiger ist, können die Kinder zum Großteil nicht mehr in die Schule gehen, weil sie einfach mit arbeiten müssen, dass die Familien ein bisschen Einkommen haben, dass sie sich Nahrungsmittel kaufen können.

Wir haben also sehr viele Kinder, die mit Kinderarbeit anfangen müssen, oder bei den Mädchen steht dann auch ganz früh schon eine Kinderheirat an.

DOMRADIO.DE: Sie unterstützen auch ein Therapiezentrum für Kinder mit Behinderungen. Was wird dort gemacht?

Gärtner: Das ist ein für Physiotherapiezentrum. Das ist für Kinder mit Behinderungen, die durch verschiedene Therapieansätze, wo man hauptsächlich die Eltern darin schult, einfach mehr Selbstständigkeit zu erlangen, mehr Bewegungsraum, sich selbst anziehen können, vielleicht aber auch einfach nur krabbeln können oder vielleicht sogar die ersten Schritte machen können.

DOMRADIO.DE: Wenn Sie mit den Menschen in Syrien gesprochen haben, welchen Eindruck hatten Sie da? Gibt es da eine große Mutlosigkeit, Kraftlosigkeit nach so vielen Jahren Bürgerkrieg?

Gärtner: Ja, definitiv. Man hatte natürlich die große Hoffnung, als die die Kampfhandlungen in den meisten Gebieten abgeflacht sind, dass damit auch der Wiederaufbau beginnt oder die Situation besser wird. Nur leider muss man feststellen, dass die Situation jedes Jahr schlimmer wird und es den Leuten so schlecht geht wie nie zuvor.

Über 90 Prozent der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze und muss tatsächlich jeden Tag schauen, wie sie überleben können.

DOMRADIO.DE: Was ist jetzt akut dringend notwendig? Was muss geschehen, um den Menschen in Syrien zu helfen?

Gärtner: Es muss ganz klar wieder mehr internationale Aufmerksamkeit geben. Wir müssen dringend die humanitäre Hilfe hochfahren. Die Leute brauchen gerade im Winter etwas zum Essen. Sie brauchen aber auch warme Decken, Kleidung, Heizmaterial, Hygieneartikel, auch für Corona.

Auch wenn es unter den aktuellen Bedingungen bei den Leuten vor Ort kein so hohen Stellenwert hat, sind die Corona-Infektionen extrem hoch und wir können im Land beobachten, wie viele Leute auch daran sterben, weil natürlich die medizinische Infrastruktur auch mehr oder weniger vollständig zerstört ist.

Das Interview führte Tobias Fricke.


Quelle:
DR
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