Einmal einen Blick hinter die Kulissen werfen, schauen was sich jenseits der eisern-schweren Sakristeitür verbirgt – davon träumt so mancher Besucher des Kölner Doms. Denn Unzugängliches, sorgsam Verschlossenes umweht meist der Hauch von Geheimnis und beflügelt manche Phantasie. Einer, der hier gewissermaßen qua Amt Hausrecht und Schlüsselgewalt hat, daher jeden Winkel zwischen Vierung und Sakristei wie seine Westentasche kennt, ist der Domzeremoniar. Bei allem, was die Liturgie in den sonntäglichen Kapitelsämtern oder anderen großen Messen betrifft, hält er die Fäden in der Hand. Was das Herzstück seiner vielfältigen Aufgabenbeschreibungen ausmacht. Und diese lesen sich wie eine Endlos-Liste, bei der nicht allein spirituell-seelsorgliche Kompetenzen gefragt sind, sondern vor allem auch Zusatzbegabungen wie ein ausgeprägtes Kommunikations- und Organisationstalent. Stressresistenz, Flexibilität, Gelassenheit und gute Laune sollten am besten noch on top kommen.
Mit anderen Worten: Angesichts eines solchen Anforderungsprofils kann sich Domvikar Jörg Stockem, der seit knapp einem Jahr die Stelle des Domzeremoniars inne hat, über mangelnde Abwechslung nicht beklagen. Zum einen ist er für die Begleitung und Kontaktpflege zu sehr unterschiedlichen Gruppen und Gremien am Dom zuständig: zu den Messdienern, den Lektoren, dem Domehrendienst und einer kleinen Frauengemeinschaft, die – wenn auch in die Jahre gekommen – immer noch mit viel ehrenamtlichem Einsatz bei der traditionellen Dreikönigswallfahrt im September mithilft. Zum anderen aber ist er zuallererst Priester in der Domseelsorge. Das heißt, dass er auch selbst Messen im Dom feiert, allein drei- bis viermal pro Woche im Beichtstuhl sitzt und jährlich wiederkehrende Projekte wie die Sternsingeraktion oder Dreikönigswallfahrt pastoral betreut.
Hauptaufgabe aber sind die Vorbereitung und Durchführung der Sonntags- und besonderen Festgottesdienste – meist mit dem Erzbischof, den Weihbischöfen und Domkapitularen – die unter Umständen viel prominentes Publikum anziehen: die Epiphanie-Feiern am 6. Januar, die Messen an Mariä Lichtmess, natürlich die zu Ostern oder zu Weihnachten, an St. Peter und Paul oder übers Jahr verstreut die Gottesdienste für die Soldaten, die Feuerwehr, die Schützen, die Karnevalisten oder die FC-Fans. Nicht zuletzt sind es außerdem die täglichen Mittagsgebete, für die Stockem Sorge zu tragen hat. Und als wäre das alles noch immer nicht genug, zeichnet er außerdem für den Zelebrationsplan an Kölns Bischofskirche verantwortlich, den er mithilfe eines Online-Tools, in das sich alle Domgeistlichen eintragen können, erstellt.
"Es ist viel Hintergrund-Orga notwendig, die im ersten Moment so nicht sichtbar ist", erklärt der Domzeremoniar. "Immer muss man vorausplanen, mitdenken und dabei mögliche Eventualitäten kalkulieren, soll es keine unliebsamen Überraschungen am Altar geben." Die richtige Balance zu finden zwischen akribisch genauer Vorbereitung und notwendiger Spontaneität sei die eigentliche Herausforderung. "Man muss wissen, wo genau man seine Energie investiert, es unter Umständen aber auch mal laufen lassen und trotzdem jederzeit einspringen können, sollte der Zelebrant mal ein ‚black out’ haben. Liturgie ist ein heiliges Spiel mit vielen Akteuren. Meine Funktion ist die eines Regisseurs, der das große Ganze im Blick behalten muss."
Domzeremoniar setzt in der Kommunikation vor allem auf Humor
Immer auf der Hut sein und gleichzeitig in den Startlöchern stehen, wenn Unvorhergesehenes den reibungslosen Ablauf der Liturgie zu gefährden drohe und eine Situation aus dem Ruder laufen könnte, gehöre zu den Spezialitäten dieses Amtes. Schließlich habe es das alles schon gegeben: dass jemand aus der Kirchenbank an den Ambo gestürmt und das Wort an sich gerissen hat oder der Kirchenraum für andere Arten von Demonstration missbraucht worden ist. "Solche Vorfälle lassen zwar kurzfristig den Adrenalinpegel höher schnellen, aber ruhig Blut zu bewahren ist dann doch zielführender. Nicht umgehend einzugreifen entzerrt mitunter eine Situation schneller, als vielleicht überzureagieren. Außerdem bin ich ohnehin eher der gelassene Typ", so der Domseelsorger. "Ich habe meinen Ersatzdienst damals beim Katastrophen- und Rettungsdienst abgeleistet. Das hilft enorm", lacht der 47-Jährige.
Überhaupt setzt Stockem in der Kommunikation mit den Domkapitularen und Bischöfen vor allem auf Humor. Auch wenn das nicht ausschließe, wie er einräumt, dass man mitunter ein dickes Fell brauche. "Es ist schon hilfreich, dass am Dom eigentlich alle etwas von diesem typisch rheinischen Naturell haben." Menschliche Eigenheiten und Vorlieben, wer wie sein Messbuch aufgeschlagen wünsche oder warum das eine Gewand besser gefalle als das andere und unter Umständen noch kurzfristig ausgetauscht werden müsse, ließen sich mit Gleichmut und Sinn für die kölsche Lebensart, auch mal fünfe gerade sein zu lassen, einfach besser ertragen. Von beidem hat Stockem glücklicherweise ausreichend. Und die längst sprichwörtlich gewordene "liturgische Nachbesprechung" mit den Küstern und Messdienern bei einem Bierchen im "Gaffel" wirke da ohnehin Wunder, gesteht er schmunzelnd. "Ein offenes Wort zur rechten Zeit hat noch nie geschadet. Auch wenn es am Dom mitunter wuselig und scheinbar unübersichtlich zugeht, so greift doch letztlich jedes Rädchen ins andere – wie bei einem gut geschmierten Uhrwerk. Und am Ende hätt et noch emmer joot jejange."
16 Jahre in der Gemeindeseelsorge, davon zuletzt sieben als Leitender Pfarrer, scheinen nach einem Jahr Bilanz für diesen Dienst ganz offensichtlich die idealen Voraussetzungen. "Als gestandener Pastor hat man das Meiste ja schon mal erlebt. Trotzdem kann ich ausgerechnet im Dom nur das Wenigste davon anwenden", resümiert Stockem. Wann schließlich finde hier schon eine Trauung oder ganz normale Beerdigung statt? Bis auf den Beichtdienst habe die Seelsorge am Dom nicht gerade viele Gemeinsamkeiten mit der in einer Pfarrei. Vielmehr seien andere Fähigkeiten gefragt: zum Beispiel die, bei echtem Mega-Stress wie dem einer Live-Übertragung in den öffentlich Rechtlichen mit einer durchgetakteten Zeitvorgabe hochkonzentriert und gut organisiert seinen Job zu machen. Detailversessenheit zahlt sich dann aus. Schließlich verzeiht das Internet keine noch so kleine Unaufmerksamkeit.
Zweifelsohne ist Stockem bei all dem sein Namenspatron, der Heilige Georg, ein wichtiger Wegbegleiter und – kommt es mal ganz dicke – auch ermutigendes Vorbild. Jedenfalls benennt er den Georgsaltar in der ersten Chorkapelle in unmittelbarer Nähe zur Sakristei als seinen Lieblingsort am Kölner Dom. Wer kann sich denn schon glücklich schätzen, im Dom einen eigenen Altar zu haben? "Als ich vor anderthalb Jahren Domvikar in Köln wurde, habe ich mich gefreut, dass ich hier jeden Tag meinem Namenspatron begegne. Denn der Heilige Georg gilt als ein kraftvoll auftretender Kämpfer, der einem den Rücken stärkt." Schließlich sei sein Kampf gegen das Böse auch ein Sinnbild für den geistlichen Kampf, den jeder Christ im Leben zu stemmen habe – egal an welchem Ort.
Der Heilige Georg siegt über den Drachen und damit gegen das Böse
Der Heilige Georg steht – blättert man im Heiligenlexikon nach – für Tapferkeit und Nächstenliebe, Ritterlichkeit und Höflichkeit. Er soll im dritten Jahrhundert in Kappadokien, der heutigen Türkei, gelebt und in jungen Jahren das Waffenhandwerk erlernt haben. Als Offizier im Dienst des römischen Kaisers Diokletian muss dieser vor allem Georgs Mut und Klugheit geschätzt haben. Der später als heilig verehrte Soldat stirbt während der Christenverfolgung einen Märtyrertod und gilt als einer der glühendsten frühchristlichen Glaubenszeugen. Eingeprägt hat sich der Nachwelt das Bild eines Ritters auf seinem Pferd, der einen zunächst übermächtig erscheinenden Drachen bekämpft. Diesem feuerspeienden Ungeheuer sollen der Legende nach Menschenopfer dargebracht worden sein, bis das Los eines Tages auch auf die Königstochter fällt, die Georg aber todesmutig aus dessen Fängen befreien kann. Der Sieg Georgs über das Ungetüm wird bis heute als Sieg des Göttlichen über das Teuflische gedeutet.
Nach seinem Arbeitsplatz befragt, gerät Stockem, gebürtig aus Würselen bei Aachen, regelrecht ins Schwärmen: "Es ist schon erhebend, in einem Wahrzeichen Dienst tun zu dürfen. Nicht zuletzt strahlt das, was wir hier machen – die Art der Liturgiegestaltung – ja weit über Köln hinaus und dient auch anderen Kathedralen schon mal zur Orientierung." Es mache ihm einfach große Freude, dafür zu sorgen, dass alle ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die auf ganz unterschiedlichen Zuständigkeits- und Entscheidungsebenen Teil dieses komplexen Systems seien, bekämen, was sie brauchten. Auch an Informationen.
"Es hängt an mir, jederzeit alle Ehrenamtler, die sich hier am Dom hochmotiviert einsetzen und eine ganz tolle Arbeit machen – immer auf denselben Wissensstand zu bringen und daher mit vielen Menschen im Gespräch zu sein. Damit auch Wertschätzung zum Ausdruck zu bringen, dieses großartige Engagement, auf das die Kirche angewiesen ist, bewusst anzuerkennen, ist mir ein ganz wichtiges Anliegen." In der Summe koste das zwar alles viel Energie, zahle sich am Ende aber aus. "Meine Hauptaufgabe besteht darin", betont der Domzeremoniar, "mit vielen Helferinnen und Helfern Liturgie und das, was sich hinter ihr verbirgt, vor dieser fantastischen Kulisse erlebbar zu machen."