Allein der Weg hinauf in schwindelerregende Höhen ist schon ein Abenteuer für sich. Jedenfalls nicht unbedingt ratsam für jemanden, der ungern den Boden unter den Füßen verliert. Schließlich sieht man das geschäftige Treiben unter sich von Sekunde zu Sekunde kleiner und kleiner werden. Denn erst geht es an der Bahnhofsseite mit einem Außenfahrstuhl auf die Dächer des Domes, wo man – kaum angekommen – mit einem einzigartigen Blick auf das Strebepfeilerwerk und äußere Stützgerüst der Gewölbe belohnt wird. Und dann führt von da innerhalb des Dachstuhls mit seinen vielen imposanten Eisenträgern nochmals eine schmale Wendeltreppe aus Gusseisen weitere 15 Meter nach oben, bis durch eine Bodenluke die kleine Plattform des Vierungsturms auf einer Markierungsmarke von 68 Metern Höhe erreicht ist.
Nicht nur dass man von hier eine schier atemberaubende Sicht von Osten auf die beiden monumentalen Türme der Westfassade hat mit den teilweise erst kürzlich restaurierten Engeln, die aufgrund ihrer noch jungen Kalkschwemme wieder in jungfräulichem Weiß aus ihren dagegen eher schmuddelig wirkenden Nischen schauen – das Instrument zum Jubelgesang jederzeit griffbereit in den Händen. Auch allem quirlig-lauten Diesseits auf der Domplatte ist man hier oben weit entrückt und betrachtet – in dieser ungewohnten Sphäre zwischen Himmel und Erde – die Welt rundherum geradezu glückstrunken aus der Vogelperspektive.
Staunen über Zuversicht und Wagemut der ersten Bauleute
Doch damit nicht genug. "Wir befinden uns hier in der Herzkammer Kölns", schwärmt Peter Füssenich euphorisch und breitet die Arme weit aus, als könne er von diesem Panorama, das dem Betrachter die 1,1 Millionen-Metropole zu Füßen legt und am äußeren Rand im Südosten weit hinter dem Flussbett des Rheins sogar noch das Siebengebirge miteinschließt – von dort wurde im Mittelalter immerhin der Trachyt für die gotische Kathedrale geliefert – gar nicht genug bekommen. Kein Wunder, dass sich Kölns Dombaumeister ausgerechnet den Vierungsturm als Lieblingsort erkoren hat. Auch wenn er die Frage nach dem einen besonderen Platz, an dem er sich vorzugsweise aufhält, eigentlich gemein findet, wie er launig kommentiert. Schließlich könne man sich doch angesichts der vielen faszinierenden Orte in und an diesem Gotteshaus, wo über die Jahrhunderte mit viel Ergebenheit, Liebe und Herzblut gearbeitet worden sei, kaum festlegen, meint er. Und trotzdem: "Vom Vierungsturm aus überblickt man den ganzen Dom, ist überwältigt von dieser unglaublichen Weitsicht und wird ganz demütig, wenn man sich selbst ins Verhältnis zu den enormen Ausmaßen dieses Bauwerks setzt", begründet er seine Wahl.
"Es beeindruckt mich immer wieder neu, in welcher Perfektion die vielen Details geschaffen wurden, die auf den ersten Blick so gar nicht sichtbar sind. Jedenfalls nicht von unten, aus dieser Perspektive aber ihre ganze Schönheit entfalten", bekennt Füssenich. Sie machten die Einzigartigkeit dieses gotischen Prachtbaus erst aus und ließen gleichzeitig auf großes handwerkliches Können schließen. "Und das in einer Zeit, in der die Menschen noch nicht annähernd über unsere technischen Möglichkeiten verfügten. Da kann man nur staunen, mit welcher Zuversicht und welchem Wagemut sie ans Werk gegangen sind."
"Stern von Bethlehem" auf Turmspitze als Hoffnungszeichen
"Im Vierungsturm steht man direkt über dem Vierungsaltar und unmittelbar am sogenannten trigonometrischen Punkt von 1867, einem zu dieser Zeit fest definierten Punkt europäischer Gradmessung", betont Füssenich, sichtlich begeistert von diesem historischen Alleinstellungsmerkmal. Bereits ab 1824 habe der Dom als Nullpunkt der preußischen Katastervermessung gedient. "Die Mitte des Domes, der Altar, war für die Menschen damals im wahrsten Sinne des Wortes maßgebend: eben Dreh- und Angelpunkt. Ein schöner Gedanke", findet der Dombauexperte. "Und eigentlich nicht steigerbar."
Nach außen kenntlich machte diesen geografischen Nullpunkt der Stadt der damalige Dombaumeister Ernst Friedrich Zwirner, indem er ihn 1860 mit dem "Stern von Bethlehem", einem vergoldeten Kupferstern mit einem Durchmesser von rund anderthalb Metern, bekrönte. Eigenhändig setzte er diesen auf die gerade fertig gewordene Spitze des seinerzeit noch unvollendeten Domes. Als ein weithin sichtbares Zeichen für Hoffnung und Zuversicht sollte er von dort aus seine ganze Strahlkraft über Köln entfalten. Denn genau unter diesem Fixpunkt, so hatte man es im Mittelalter bereits geplant, sollte der 1164 von Mailand nach Köln gelangte Dreikönigenschrein aufgestellt werden. Zwar befindet sich das kostbare Reliquiar heute nicht ganz an dem ursprünglich dafür vorgesehenen Platz, sondern einige Meter weiter ostwärts an zentraler Stelle hinter dem Hochaltar im Chorraum. Doch beides – der Stern und die Gebeine der drei Weisen aus dem Morgenland, die den leuchtenden Himmelskörper als Wegweiser verstanden und ihm – wie es der Evangelist Matthäus berichtet – zum neugeborenen König nach Bethlehem folgten, bilden bis heute eine Einheit.
Ziergiebel gegen moderne Engelfiguren ausgetauscht
Und so prangt der 19-zackige Stern noch immer dort, wo sich Lang- und Querhaus kreuzen, in 109 Metern Höhe, auch wenn sein Unterbau, der einst neugotische Turm mit seinen Wimpergen, Fialen und Wasserspeiern, im Zweiten Weltkrieg so stark beschädigt wurde, dass er inzwischen neugestaltet wurde. Während die eigentliche Dach- und Turmkonstruktion großteils den schweren Bombardements zwischen 1943 und 1945 standgehalten hatte und nicht in Flammen aufgegangen war, auch weil in den 1860er Jahren, wie Füssenich erläutert, für damalige Verhältnisse modernstes Baumaterial verwendet worden war, musste die ursprünglich aus Zink gefertigte Außenverkleidung des Turmes weitgehend ersetzt werden. So wurden beispielsweise die an der Basis des Turmhelms angebrachten Ziergiebel in den Jahren 1965 bis 1973 gegen acht moderne Engelfiguren aus mit Blei verkleidetem Lärchenholz ausgetauscht. Die bekrönende Kreuzblume mit dem Stern hingegen ist immer noch original.
"In der Nachkriegszeit waren die Stilelemente des 19. Jahrhunderts verpönt. Man suchte nach einer neuen Formensprache, so dass die aktuelle Silhouette des Vierungsturms eher in Richtung Art déco geht. Eine historisierende Instandsetzung indes, wie sie uns heute wieder wichtig ist, stieß auf Ablehnung", weiß Füssenich. 90 Prozent der Stadt hätten 1945 in Schutt und Asche gelegen. "Da war der Wunsch nach Neuem groß. Die alte Zeit wollte man hinter sich lassen – was sich dann eben auch am Dom manifestiert hat." Inzwischen sei man da wieder sehr viel strenger und orientiere sich lieber am Original und alten Vorbildern, betont der Architektur- und Denkmalpflegefachmann.
Füssenich: Schwindelfrei und katholisch muss man sein
Vor neun Jahren ist der heute 50-Jährige an die Kathedrale gekommen, damals in der Funktion des stellvertretenden Dombaumeisters. Inzwischen kennt Füssenich den Dom wie seine Westentasche und ist – soweit man es aus den Quellen weiß – als 19. bekannter Dombaumeister in der Geschichte von Kölns Wahrzeichen verantwortlich für den Erhalt des Weltkulturerbes. Ein Anspruch, den er mit den etwa 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Dombauhütte teilt. Man sollte sich auskennen mit den Besonderheiten historischer Bausubstanz sowie bei allen Fragen ihrer Konservierung und Restaurierung. So sieht es seine Stellenbeschreibung vor. "Und dass man schwindelfrei und katholisch ist", setzt Füssenich lachend noch hinzu. "Mit Höhenangst kann man diesen Job nicht machen. Und ohne Ehrfurcht vor dem, was andere vor uns geschaffen haben, oder fehlenden Kenntnissen der Liturgie auch nicht."
Man müsse sich dem Dom verschreiben, sagt er – "wie die vielen Generationen vor uns, die an dieser Kirche jahrhundertelang gebaut und sie nach dem Krieg auch wieder aufgebaut haben, selbst wenn manche Wunde wie die Plombe am Nordturm für immer ein Mahnmal bleibt: aber ein wichtiges. Denn es mahnt zum Frieden und erinnert uns an unsere Geschichte."
Heute schon Baustellen bis ins Jahr 2070 planen
Dombaumeister in Köln zu sein und mit vielen anderen an diesem Generationenprojekt, das die Möglichkeiten eines Einzelnen übersteige, mitarbeiten zu dürfen, empfinde er als Geschenk, unterstreicht Füssenich. "Der Dom ist ein Symbol dafür, was Menschen schaffen können, wenn sie sich zusammenschließen, um ein Teil von etwas ganz Großem zu werden." Dabei müsse man allerdings über sich hinausdenken, was im Übrigen für alle gesellschaftlichen Themen, zum Beispiel auch den Klimaschutz, gelte.
"An einem Generationenwerk wie dem Kölner Dom muss man ständig arbeiten. Daher ist der Dom eine ewige Baustelle und deshalb denken wir auch jetzt schon weit in die Zukunft." Gerade würden bereits Baumaßnahmen bis ins Jahr 2070 geplant. "Damit reichen wir den Auftrag unserer Vorgänger, dieses Stein gewordene Glaubenszeugnis für die Nachwelt zu bewahren, an die nächsten Generationen weiter – im Vertrauen darauf, dass unsere Arbeit fortgesetzt wird. So wie es alle Bauleute vor uns auch schon getan haben."