DOMRADIO.DE: Eigentlich sollte so ein reiches Land wie Deutschland die Herausforderung gut stemmen können und die Geflüchteten angemessen versorgen. Scheitert das am Ende an falscher Verteilung sowohl von Geldern als auch von Menschen in Deutschland und in Europa? Wie schätzen Sie das ein?
Dr. Stefan Heße (Erzbischof von Hamburg und Vorsitzender der Migrationskommission der Deutschen Bischofskonferenz): Erstmal muss man sagen, dass Deutschland viel geschafft hat. Wir sollten uns nicht kleiner machen oder schlechter reden, als wir sind. Bei der Versorgung der Flüchtlinge aus der Ukraine, aber auch in den Jahren 2015 und 2016 haben wir hier unwahrscheinlich viel gestemmt.
Sie erinnern sich noch alle an das Wort der damaligen Kanzlerin Merkel, die gesagt hat, "wir schaffen das". Wir haben viel geschafft. Das, finde ich, ist erstmal die Grundbotschaft, die man sich immer wieder vergegenwärtigen muss.
Flüchtlinge aufzunehmen und sie zu schützen, ist keine Spielerei, sondern eine ethische Aufgabe, vor der wir stehen. Dieser Aufgabe können wir uns nicht entziehen. Klar ist: Das kostet auch Geld.
DOMRADIO.DE: Schneidet Deutschland also im Zusammenspiel oder im Vergleich mit Resteuropa sehr gut ab?
Heße: Ich glaube, dass wir in Deutschland viel getan haben und auch nach wie vor viel tun.
Ich bin der Meinung, dass es darauf ankommt, dass wir in der EU einen Mechanismus für die Verteilung der Flüchtlinge hinbekommen müssen. Den haben wir bisher nicht.
Wir haben in Deutschland eine ausgewogene Verteilung durch den "Königsteiner Schlüssel", der anhand der Kapazität der Bundesländer besagt, wie viele Flüchtlinge ein einzelnes Land aufnehmen kann.
Aber so einen Schlüssel gibt es auf EU-Ebene nicht. Dafür habe ich immer schon geworben. Dass das nicht einfach ist, leuchtet mir ein. Aber ich glaube, nur so wird man erreichen können, dass sich alle Länder in der EU ihrer Verantwortung stellen und sich keiner dieser Verantwortung entzieht.
DOMRADIO.DE: Wir haben in den ersten Monaten dieses Jahres eine ganze Serie von Bootsunglücken auf dem Mittelmeer erleben müssen. Viele Menschen sind ertrunken und gestorben. Um ein solches Szenario zu verhindern, will die EU auf neue Flüchtlingsabkommen setzen, damit sich die Menschen gar nicht erst auf diese lebensgefährliche Überfahrt begeben. Was müsste dieses Abkommen gewährleisten, damit eine menschlichere Migrationspolitik ermöglicht wird?
Heße: Zunächst einmal glaube ich, dass Sie den Finger in die Wunde legen. Das Mittelmeer ist eine der gefährlichsten Routen. Der Papst hat wiederholt gesagt, dass das Mittelmeer der größte Friedhof ist, den wir auf der Erde haben.
Seit dem Jahr 2014 haben wir mehr als 25.000 Tote oder Vermisste registriert. Deswegen kann und darf das nicht so weitergehen.
Deswegen ist zum Beispiel Seenotrettung etwas ganz Wichtiges. Aber da sehen wir auch immer wieder Bilder, wie das an Grenzen gerät.
Daher ist der nächste Schritt und eine weitere, ganz zentrale Stellschraube, dass die Zugangswege sicher sind, damit die Menschen nicht ertrinken oder sterben, und dass die Zugangswege legal sind.
Das heißt, es braucht so etwas wie humanitäre Aufnahmeprogramme oder es braucht Vereinbarungen, die den Migranten die Chance eröffnen, zu Erwerbszwecken nach Europa zu kommen. Denn eins ist klar: Europa ist nicht durch Abschottung groß geworden, sondern durch Öffnung und durch die Aufnahme von Menschen aus anderen Herkunftsstaaten. Das muss gefördert werden und das muss strukturiert werden.
Auch das ist wieder ein Wunsch an die Weltgemeinschaft, hier zu klaren Vereinbarungen zu kommen.
DOMRADIO.DE: Der bayerische Ministerpräsident und CSU-Chef Markus Söder hat vorgeschlagen, die Entwicklungshilfe, die wir leisten, künftig an die Rücknahme abgelehnter Asylbewerber zu knüpfen. Das lehnt die Ampel ab. Was sagen Sie dazu?
Heße: Wenn man das so hört, hat man den Eindruck, dass Söder hier Entwicklungshilfe und Migration miteinander verkoppelt und sozusagen die Entwicklungszusammenarbeit als Druckmittel einsetzt, um bestimmte migrationspolitische Maßnahmen durchzusetzen. Da spielen wir als Kirche nicht mit, das passt nicht zusammen.
Klar ist, dass es eine Entwicklungszusammenarbeit braucht. Aber die zielt dann darauf, dass in einem bestimmten Land, in einer bestimmten Region, die wirtschaftlichen, sozialen oder die ökologischen Verhältnisse so verbessert werden, dass die Gesellschaft dort gestärkt wird und dass die Ungerechtigkeiten behoben werden.
Wenn man das richtig und konsequent macht, kann ich mir schon vorstellen, dass das auch dazu beiträgt, dass auf lange Sicht erzwungene Migration reduziert wird.
Aber Entwicklungszusammenarbeit darf nicht einfach ein Druckmittel zur Eindämmung der Migration werden. Da sind wir auf dem Holzweg.
DOMRADIO.DE: Manche Beobachter ziehen Vergleiche zu dem "Flüchtlingssommer" 2015 und warnen davor, dass steigende Flüchtlingszahlen einen neuen Rechtsruck in Europa nach sich ziehen könnten. Inwieweit ist das gefährlich, sich von einer solchen Angst treiben zu lassen?
Heße: Man sagt ja ganz allgemein: Angst ist kein guter Ratgeber. Das trifft auch bei diesem Migrationsthema zu. Der Vergleich mit 2015 soll eigentlich in dieser Argumentation dazu dienen, deutlich zu machen, dass wir vor einer riesigen Krise und Katastrophe stehen. Bestimmte Parteien nutzen das richtig aus und haben das entsprechende Vokabular. Aber ich habe es eben auch schon mal gesagt. Ich würde erstmal auf das schauen, was wir geleistet und was wir alles geschafft haben. Das war aufgrund des Engagements von staatlicher, zivilgesellschaftlicher und auch kirchlicher Seite möglich.
Wir erheben jedes Jahr, wie viele Menschen im Bereich der Kirchen im Migrationsfeld unterwegs sind und sich engagieren. Die Zahl ist nur ganz gering gesunken. Sie bewegt sich immer noch auf einem hohen Niveau.
Man muss doch auch einfach mal sagen, dass es in einer relativ kurzen Zeit unkompliziert gelungen ist, eine Million ukrainische Flüchtlinge bei uns unterzubringen, aufzunehmen und zu versorgen.
Wenn man das Stichwort von der Angst bedient, spielt man letztlich wahrscheinlich auch Putin in die Hände, der damit irritieren möchte. Damit würde man letztlich seinen völkerrechtswidrigen Krieg unterstützen. Das können wir allemal nicht tun.
Wir müssen auch vorsichtig sein gegenüber jeder Gefahr von Rechtsaußen. Deswegen brauchen wir in unserer Gesellschaft breite Bündnisse gegen jede Form von Rassismus und Menschenfeindlichkeit. Dafür setzt sich die katholische Kirche ein. Wir vergeben zum Beispiel demnächst wieder unseren Preis gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit.
Das müssen wir auch tun, weil wir zum Beispiel viele Opfer rassistischer Übergriffe beklagen müssen. Diesen Opfern müssen wir Aufmerksamkeit entgegen bringen und alles dafür tun, dass sich so etwas nicht wiederholt oder verfestigt.
Das Interview führte Uta Vorbrodt.