Annette Schavan über Doktorarbeit, Franziskus und Frauen

"Es gab manche verzweifelte Zeiten"

Zwischen Angela Merkel und Papst Franziskus: Annette Schavan war Bildungsministerin und Vatikanbotschafterin, dazwischen lag 2013 die Affäre um ihre Doktorarbeit. Im "Himmelklar Podcast" zeigt sie sich sogar dankbar für diese Zeit.

Annette Schavan / © Julia Steinbrecht (KNA)
Annette Schavan / © Julia Steinbrecht ( KNA )

Himmelklar: In ihrem neuen Buch "Geistesgegenwärtig sein" wünschen Sie sich von den Christen in Europa eine "neue Bescheidenheit". Was heißt das?

Annette Schavan (2005- 2013 Bundesministerin für Bildung und Forschung und 2014-2018 deutsche Botschafterin beim Heiligen Stuhl): Das hat zwei Dimensionen. Im Blick auf unseren Glauben sollten wir nicht immer auftreten, als hätten wir Antworten auf alle Fragen der Menschen, als seien wir auf der sicheren Seite. Wir sollten bescheidener werden und kritische Fragen ernst nehmen, auch unsere eigenen Fragen. Und wir sollten die produktive Kraft des Zweifels erkennen. Die Gemeinde vor Ort braucht mehr Bedeutung in all dem, was sich in dieser stark hierarchischen Ordnung der Kirche ereignet.

Und das andere "bescheidener werden": Wissen, dass so wie wir leben, unser Verbrauch an Ressourcen, unser Verbrauch an Möglichkeiten in der Welt, zu hoch ist und darunter andere leiden. Oder direkter gesagt: So wie wir leben, leben wir auch auf Kosten anderer und der Zukunft. Wenn es eine Gruppe gibt, die das deutlich machen kann, die sich dafür einsetzen kann, dass Dinge sich ändern, dann sind es die Christen. Das ist ein richtig guter Auftrag. Aus diesem Auftrag könnten wir vielleicht auch wieder mehr unseren Glauben verstehen. Denn es prägt ja nicht nur der Glaube das Leben, sondern es prägt auch das Leben den Glauben - das zu erkennen, ist wichtig.

Himmelklar: Bescheiden sein als Christen mit unseren Standpunkten: Sie haben ja als Botschafterin am Heiligen Stuhl vier Jahre mit Christen aus aller Welt Kontakt gehabt. Vergessen wir manchmal als Kirche in Deutschland, dass es auch noch andere Standpunkte in der Kirche gibt? Das wir vielleicht nicht alle Antworten und Reformen in Deutschland liefern müssen? Es gibt ja international zum Beispiel auch viel Skepsis über die Reformideen des Synodalen Weges.

Schavan: Nun, die Fragen, die wir diskutieren, sind keineswegs nur Fragen aus Deutschland, das wird ja manchmal gesagt. Es sind Fragen, die auch anderswo diskutiert werden. Die Diskussion zu führen, ist richtig. Sie auch immer stärker international verbunden zu führen, ist auch richtig. Viele Fragen betreffen die Zukunftsfähigkeit der Kirche weltweit.

Gleichzeitig dürfen wir uns darin nicht erschöpfen. Wer auf Kirche schaut, wer auf die Christen schaut, darf nicht den Eindruck gewinnen, es gehe nur um Insider-Geschichten und eine Insider-Sprache.

Manche haben den Eindruck, es geht vor allem um Macht und Angst vor Machtverlust. Das Wort wird nie gesagt. Aber es ist spürbar, dass es nicht nur viele kritische Fragen gibt, sondern es gibt auch viele kritische Reaktionen, die den Eindruck erwecken, alles, wie es ist, sei von Christus gestiftet und daher unverwechselbar und unverrückbar. Das ist keine gute Reaktion. Und deshalb ist wichtig, das eine mit dem anderen zu verbinden. Der Auftrag war ja "Geht in die Welt, verkündet das Evangelium, steht den Armen bei".

Himmelklar:  Sie waren bis 2013 Bundesbildungsministerin. 2014 haben Sie den Posten als Botschafterin beim Heiligen Stuhl angetreten. Davor gab es die große Diskussion um Ihre Doktorarbeit, die Aberkennung des Doktortitels und Ihren Rücktritt vom Ministeramt. Das ist jetzt acht Jahre her. Wie haben Sie das alles erlebt damals? Und wie hat Sie das vielleicht auch geprägt?

Schavan: Es hat mich tief getroffen, lange beschäftigt und auch so manche verzweifelte Zeiten beschert. Jetzt schaue ich darauf mit großer Dankbarkeit dafür, dass ich nach Rom gehen konnte. Der Ortswechsel war wirklich ein Glücksfall für mich, um auf neue Gedanken zu kommen, mich zu sortieren und gleichzeitig eine Berufsstation zu erleben, in der ich ja beides miteinander verbinden konnte, die politischen Erfahrungen und auch die Erfahrungen in der Kirche und in der Theologie. Das war alles in allem eine wirklich glückliche Zeit, die mir geholfen hat, über diese schwierige Phase hinwegzukommen.

Himmelklar: Was haben Sie daraus gelernt?

Schavan: Dass es in solchen Situationen wichtig ist, irgendwann auch innerlich abzuschließen. Nicht immer und immer wieder bei der Frage nach dem Wieso zu bleiben, warum konnte das so entschieden werden. Sondern es auch anzunehmen als etwas, an dem ich jetzt nichts ändern kann. Für mich war wichtig, dass ich weiß, wie ich meine Dissertation geschrieben habe - und in den Spiegel schauen kann. Und dann aber nicht immer und immer wieder das zum Gegenstand meiner Beschäftigung zu machen. Man muss dann abschließen können und sich auf Neues konzentrieren.

Himmelklar: Mit wem lässt es sich eigentlich einfacher zusammenarbeiten? Mit Angela Merkel oder mit Papst Franziskus?

Schavan: Ganz verschiedene Welten, ganz verschiedene Aufgaben. Im Kabinett gibt es eine unmittelbare und tägliche Zusammenarbeit. Als Botschafterin ist es eine Begleitung der Arbeit des Gegenübers. Aber natürlich, Vatikan und Papst sind nochmal etwas anderes als ein Staat. Das Gegenüber ist eine weltumspannende Organisation, ein Unikat. Das gibt's wirklich nur einmal. Die katholische Kirche, die Weltkirche, ist auf fünf Kontinenten präsent. Und von dieser Internationalität war meine Arbeit - und ist die Arbeit der Botschafterinnen und Botschafter - stark geprägt. Ich habe damals wie nie zuvor die Erfahrung gemacht: Das ist eine politisch große Chance, dieser Vatikan, dieser Heilige Stuhl.

Und das merkt man ja jetzt. Dieser Papst Franziskus ist eine große Autorität in allen Transformationsprozessen in dieser Welt. Er wird als Autorität zitiert. "Fratelli tutti", vor allen Dingen auch "Laudato si", wo viele gesagt haben: Das ist ein neues Kapitel in der katholischen Soziallehre. Da stehen ganz viele Dinge drin, die wir in der Wissenschaft genauso sehen. Es gibt fast einen Schulterschluss zwischen vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die mit Veränderungsprozessen in der Welt beschäftigt sind, und Papst Franziskus. Und davon habe ich viel mitbekommen. Das war faszinierend zu sehen. Wir reden hier nicht nur über eine Gemeinschaft glaubender Menschen. Wir erleben nicht nur eine große Tradition von annähernd zweitausend Jahren, sondern wir erleben ein Unikat. Nicht verbunden in irgendeinem politischen Bündnis, wirklich selbstständig und von daher auch in der Lage, Avantgarde zu sein, bei den großen Themen der Zukunft.

Himmelklar: Innerkirchlich gibt es ja in den letzten Jahren immer mehr auch Kritik am Papst. Was setzt er um, was nicht. Sie sagen, wenn man ihn wirklich verstehen will, muss man mehr nach außen blicken.

Schavan: Unbedingt, weil er ja von Beginn seines Pontifikats an deutlich gemacht hat, dass ihm das vor allem am Herzen liegt. Dass er sich darum kümmern wird, um ein anderes Verständnis von Wirtschaft, Wohlstand, Fortschritt. Ein Verständnis, das den Armen gerecht wird, den Betrogenen, den Ausgeschlossenen. Ein Verständnis, das dieser Welt hilft, mehr zusammenzurücken. Die Zeit der Pandemie hat uns gezeigt, dass es Themen gibt, die niemand alleine durchstehen kann. Wo die Solidarität lebenswichtig ist. Und daraus ergibt sich auch ein Teil der Bewertung seines Pontifikats.

Damit rede ich nicht klein, was sich in der Kirche ändert. Damit rede ich auch nicht klein, wie sehr die Kirche in weiten Teilen gerade - nicht nur in Deutschland, auch in Polen und in lateinamerikanischen Ländern und anderswo - ein großes Ärgernis für viele Menschen ist, tragische Entwicklungen im Gang sind. Und manchmal denke ich, auch der Papst ist zu großzügig jenen gegenüber, die nichts verändern wollen. Das mag schon so sein. Aber es ändert nichts daran: Seine Mission ist klar beschrieben.

Ein aktuelles Beispiel ist die Irakreise des Papstes. Sie ist historisch, ein großer Impuls. Er geht nicht dorthin, wo die Welt mit sich zufrieden und im Wohlstand lebt, sondern er geht dahin, wo Not, Unfriede und Zerstörung besonders groß sind. Und das geht auch an der Kirche nicht vorüber. Das ist etwas, das sie für sich auch in Anspruch nehmen muss, da zu sein, wo die Not am größten ist.

Himmelklar: Sie arbeiten seit Jahrzehnten als Frau in kirchlichen Führungspositionen, haben das Cusanuswerk geleitet, waren als einzige Frau Abteilungsleiterin im Generalvikariat im Bistum Aachen. Haben Sie sich denn in Rom, in der Herzkammer der Weltkirche, als Frau wohl gefühlt, zwischen Kardinälen und Bischöfen?

Schavan: Nun, da ist es insofern viel einfacher, weil im diplomatischen Corps zu meiner Zeit 14 Frauen waren. Das ist keine kleine Gruppe gewesen. Da habe ich eigentlich einen sehr selbstverständlichen Umgang erlebt. Ich füge dann immer hinzu: Wir Frauen waren da ja Botschafterinnen und wollten nicht Kardinälinnen werden, deshalb war es vielleicht auch einfacher. Wenn ich aber meine Amtszeit bis 2018 anschaue und dann die Zeit von 2018 bis heute, dann wird ja schon sichtbar, dass Frauen nun auch in interessante Positionen in der vatikanischen Verwaltung eintreten. Und das ist eine gute Entwicklung. Und wird vielleicht auch von daher manches verändern, das lange gehalten, aber sich nun auch überholt hat.

Himmelklar: Es gibt nun eine französische Ordensschwester, die Stimmrecht bei der Bischofssynode hat. Die Deutsche Bischofskonferenz hat mit Beate Gilles gerade ihre erste Generalsekretärin gewählt. Das sind ja schon Schritte. Werden die vielleicht zu wenig beachtet?

Schavan: Die Wahl von Frau Dr. Gilles ist positiv wahrgenommen worden und wird auch gewürdigt. ICh freue mich sehr, dass sie die Aufgabe angenommen hat. In dieser Zeit, vor allem in einer so schwierigen Lage, wie sie die Kirche gerade erlebt, wird sie nicht zu tragfähigen Lösungen kommen, ohne die Erfahrungen von Frauen und Männern aufzunehmen. Das ist eine Überlebensfrage für die Kirche und dementsprechend ernst muss sie das auch betreiben.

Das Gespräch führte Renardo Schlegelmilch.

Dies ist ein Auszug des Gesprächs. Das komplette Interview zum Hören gibt es in der aktuellen Folge des Podcasts Himmelklar – ein überdiözesanes Podcast-Projekt koordiniert von der MD GmbH in Zusammenarbeit mit katholisch.de und DOMRADIO.DE. Unterstützt vom Katholischen Medienhaus in Bonn und der APG mbH. Moderiert von Renardo Schlegelmilch und Katharina Geiger.


 

Himmelklar (DR)
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Quelle:
DR
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