KNA: Herr Juncker, in den USA steht Donald Trump vor seiner zweiten Präsidentschaft. Viele Europäer blicken schon jetzt mit Schrecken darauf.
Jean-Claude Juncker (ehemaliger EU-Kommissionspräsident): Die Amerikaner haben nicht den Präsidenten gewählt, der in den Augen der Europäer besondere Zustimmung genossen hat. Aber man kann nicht weltweit für Achtung von demokratischen Entscheidungsfindungen eintreten und gleichzeitig die demokratische, souveräne Wahl der Amerikaner mit übermäßiger Kritik versehen.
KNA: Was sollte die EU jetzt tun?
Juncker: Wichtig ist, dass wir den Kopf nicht in den Sand stecken, sondern uns bemühen, dem künftigen Präsidenten als geschlossene Formation und nicht als ein in Unordnung geratener Hühnerhaufen zu begegnen.
KNA: Welche Rolle kann die EU-Kommission, speziell der Präsident beziehungsweise die Präsidentin, im Verhältnis zu den USA spielen?
Juncker: Mein Vorgänger Jacques Delors hat einmal sinngemäß gesagt: Der Kommissionspräsident hat in Europa keine Alliierten. Das ist wohl wahr. Aber er muss den europäischen Haufen zusammenhalten. In den Außenbeziehungen, vor allem, wenn es um Handelsfragen geht, muss die EU-Kommission deutlich machen, dass sie die Herrin im Hause ist. Auch einem Präsidenten Trump gegenüber.
KNA: Den ungarischen Premier Viktor Orban haben Sie einmal mit den Worten begrüßt "The dictator is coming" - "der Dikator kommt". Wie geht man mit so einem Politiker um?
Juncker: Auch er hat eine innenpolitische Agenda, wie übrigens jeder europäische Regierungschef. Aber man muss ihn immer wieder fragen, was wohl passieren würde, wenn jeder in seiner Ecke, ungestört von anderen Europäern, laut schnarchen darf. Dann wäre die EU nicht regierungsfähig. Genau das muss man meinem Freund Viktor Orban so nahe wie möglich bringen.
KNA: Es herrscht also immer noch Aufklärungsbedarf?
Juncker: Ja - auch, weil wir diese Botschaft nicht mit der notwendigen Verve vorbringen.
KNA: Woran liegt das?
Juncker: Gerade einige größere Mitgliedsstaaten der EU denken, dass jeder für sich allein in der Welt etwas bewirken könnte. Doch das ist falsch.
KNA: Teilen Sie die Ansicht, dass die Asyl- und Migrationspolitik in der EU ein zunehmendes Desaster ist?
Juncker: Nicht ganz. Ich hatte 2015 eine Quotenverteilung vorgeschlagen, nach der jedes Mitgliedsland ein bestimmtes Kontingent an Flüchtlingen würde aufnehmen müssen. Trotz einer mehrheitlichen Zustimmung durch die EU-Innenminister wurde dieser Beschluss nie komplett verwirklicht. Immerhin: Jetzt hat sich die EU auf eine neue Migrationsagenda verständigt.
KNA: Vorerst greifen weiter die Dublin-Regeln, nach denen ein Asylverfahren in dem Land angestrengt wird, wo der Flüchtling erstmals europäischen Boden betreten hat. Das läuft aber letzten Endes auf eine massive Benachteiligung der südeuropäischen Staaten hinaus. Kaum ein Bootsflüchtling wird beispielsweise in Skandinavien oder an der deutschen Nordseeküste anlanden.
Juncker: Als diese Regelung getroffen wurde, hat es diesen massiven Zustrom von Flüchtlingen nicht gegeben. Trotzdem: Das, was damals richtig war, ist auch heute noch richtig - wenn man Italiener und Griechen nicht alleine lässt, sondern die Aufnahme- und Integrationsanstrengung auf alle Mitgliedstaaten der Union erweitert.
KNA: Aber genau das findet doch nicht statt!
Juncker: In ungenügendem Maße. Wir sollten eigentlich stolz darauf sein, dass die Unglücklichen der Welt ihr Heil in Europa suchen. Europa darf keine Festung werden, sondern muss ein offener Hafen bleiben für alle, die ihn brauchen. Das hat auch etwas mit dem christlichen Menschenbild zu tun. Man kann ja nicht das "C" hochhalten und es klein schreiben, wenn es drauf ankommt. Deshalb bin ich der Auffassung, dass man legale Zuwanderungswege nach Europa öffnen muss. Und zugleich Schlepper und kriminelle Banden konsequent bekämpft.
KNA: Sind Grenzkontrollen ein Schritt in die richtige Richtung?
Juncker: Eigentlich sind solche Kontrollen lächerlich, weil Flüchtlinge selten die offiziellen Grenzübergänge nutzen.
KNA: Sie sind Mitglied der Christlich-Sozialen Volkspartei. Hat die katholische Soziallehre noch irgendeine Relevanz? Immerhin gründen darauf - Stichwort Subsidiarität - einige der zentralen Prinzipien der EU.
Juncker: Ein paar Tage vor seinem Tod bin ich mit Norbert Blüm noch einmal das christlich-soziale Feld abgeschritten. Er hat mir damals gesagt: "Ich sterbe jetzt. Du musst damit rechnen, dass Du vielleicht der letzte christlich-soziale Politiker innerhalb unserer Parteienfamilie bist."
KNA: Hatte Blüm recht?
Juncker: Das weiß ich nicht. Aber die fundamentale Erkenntnis der katholischen Soziallehre, dass es nicht einen Kampf geben darf zwischen Kapital und Arbeit, sondern ein geordnetes Miteinander über Sozialpartnerschaft, Tarifabkommen und dergleichen bleibt für mich ein europäisches Ordnungsprinzip. Es wird allerdings nicht mit der notwendigen Überzeugungskraft von Christdemokraten verteidigt.
KNA: Vielleicht sind diese Ideale nicht mehr attraktiv?
Juncker: Ich lese zu meiner größten Freude, dass sich auch der Kanzlerkandidat der Union, Friedrich Merz, stärker in diese Richtung bewegt - nach einigen Startschwierigkeiten. Unsere Sache ist nicht an ihrem Ende angelangt. Wenn man die Welt und die Lage der Arbeitnehmerschaft betrachtet, kommt man vielmehr zu dem Schluss, dass der große Moment der katholischen Soziallehre eigentlich erst noch kommt, egal, ob man sich offensiv zu ihr bekennt oder das tut, was sie anmahnt. Ich bleibe ein Mann der katholischen Soziallehre - und wenn es mehr davon gäbe, wäre die Welt eine bessere.
KNA: Wenn Ihre Beobachtungen stimmen - warum ist dann von der katholischen EU-Bischofskommission COMECE so wenig zu hören?
Juncker: Ich habe von denen viel gehört, als der Münchner Kardinal Reinhard Marx Vorsitzender war.
KNA: Und jetzt?
Juncker: Wünschte ich mir mehr öffentliche Äußerungen der EU-Bischofskommission zu den Fragen der Zeit. Wortführerschaft hat nur der, der sich zu Wort meldet.
KNA: Was hat Sie erfüllt in der politischen Tätigkeit?
Juncker: Ich bin 15 Jahre lang Arbeitsminister gewesen. Das war die schönste Zeit in meinem Leben, weil sich tagtäglich die Wirkung von Politik in den Betrieben überprüfen ließ.
KNA: Wer Parteifreunde hat, braucht keine Feinde. Gibt es Freundschaft in der Politik?
Juncker: Ja - auch zu Politikern in anderen Parteien. Ich habe beispielsweise zu den Sozialdemokraten in Luxemburg immer freundschaftliche Bande gepflegt, zu den Liberalen weniger, das sind eigentlich pure Marktwirtschaftler, wie man am aktuellen deutschen Beispiel sehen kann. Wirkliche Feindschaft habe ich in der Politik nie erlebt.
KNA: Tatsächlich?
Juncker: Man hat mit Partnern zu tun, die manchmal unterschiedlicher Auffassung sind. Aber daraus dürfen keine Feindschaften erwachsen. Auch den Rechtsextremen gegenüber empfinde ich keine feindlichen Gefühle, sondern eher Besorgnis. Ich halte diese Menschen für Irregeleitete, denen man nicht belehrend gegenübertreten sollte. Man sollte sie dazu ermuntern, auf den Pfad der Tugend zurückzukehren.
KNA: Ein enges Verhältnis verband Sie mit Helmut Kohl.
Juncker: Er hat mich väterlich betreut. Und ich habe ihm die Treue gehalten, als es ihm schlecht ging. Weil ich nicht diejenigen von der Bettkante stoße, die sich im Schlafzimmer einmal nicht korrekt benehmen, was jedem in seinem Leben passieren kann. Gleichwohl halte ich nicht für nachahmenswert, was er im Spendenskandal gemacht hat.
KNA: Gab es neben Kohl und Blüm noch weitere Freundschaften in CDU und CSU?
Juncker: Wolfgang Schäuble und Theo Waigel. Waigel hat nie dumm über kleine Leute geredet. Ich habe in den C-Parteien diejenigen nicht gemocht - ohne sie zu hassen - die sich despektierlich über die kleinen Leute geäußert haben.
KNA: Ist Politik eine Droge?
Juncker: Man muss sich vor einer allzu heftigen Einnahme dieser harmlos erscheinenden täglichen Pille schützen. Für mich ist Politik aber keine Droge, sondern ein gern angenommener Auftrag.
KNA: Ihr Verhältnis zu Macht?
Juncker: Ich mag den Begriff "Macht" nicht so sehr, sondern spreche lieber von der Möglichkeit der Einflussnahme. Wenn man diese Möglichkeit im Laufe seines Lebens vergrößern kann, hat man nicht alles falsch gemacht.
KNA: Was war schwieriger: Die Einführung des Euro oder die Brexit-Verhandlungen?
Juncker: Die Einführung des Euro war ja nicht nur in Deutschland hochumstritten. Ich war Überzeugungstäter, weil ich mir dachte: Man muss die Währungen verschmelzen, um dem europäischen Gegeneinander die Schärfe zu nehmen. Das ist uns mit dem Euro gelungen.
KNA: Und der Brexit?
Juncker: Alle in der Welt haben damals gesagt: "Der Brexit läutet das Ende der EU ein." Das ist nicht passiert. Euro und Brexit waren beides schwierige Unterfangen: der Euro, um ihn hinzukriegen; der Brexit, um andere davon abzuhalten, dasselbe zu tun.
KNA: Glauben Sie, dass die Briten in absehbarer Zeit in die EU zurückkehren?
Juncker: Nein.
Das Interview führte Joachim Heinz, KNA.