DOMRADIO.DE: Die Bistümer in Deutschland haben ihre Kirchenaustrittszahlen für das Jahr 2021 veröffentlicht. Aus diesen wird deutlich, dass immer mehr Menschen die katholische Kirche verlassen. Sie bieten in der Offenen Kirche St. Klara in Nürnberg das Gesprächsformat EXIT an - eine Begleitung für Austrittswillige. Was erzählen die Ihnen?
Pater Ansgar Wiedenhaus SJ (Pater in der Offenen Kirche St. Klara Nürnberg): Wo fangen wir an? Das eine ist natürlich, dass die kirchliche Großwetterlage momentan nicht ermutigend ist. Es gibt auf der einen Seite die ganzen Skandale, auf der anderen Seite die Erfahrung von Reformunfähigkeit oder Reformunwilligkeit.
Das andere sind einfach negative persönliche Erfahrungen von Kirche. Das ist mindestens genauso wichtig. Wenn Leute sagen "Ich lebe in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft und mein religiöses Zuhause erkennt das Beste in meinem Leben nicht als etwas Gutes an", dann ist das eine unglaubliche Verletzung.
Oder wenn Leute in ihrer Pfarrei erleben, dass ein neuer Pfarrer kommt und sagt: "Die Wiederverheirateten brauchen sich nicht einbilden, dass sie bei uns zur Kommunion kommen". Dann sagen die Leute, sie haben das alles lange genug mitgemacht. Es reicht jetzt.
DOMRADIO.DE: Das sind Menschen, die nicht automatisch ihren Glauben verlieren. Kann man ohne Kirche glauben?
Wiedenhaus: Wenn Sie die Kirche als Behörde oder verfasste Organisation meinen, dann ja. Ohne das geht es. Glaube braucht eine Form von Gemeinschaft, damit man nicht irgendwann zu einem Gott betet, der genauso aussieht wie man selbst.
Aber wie diese Gemeinschaft aussieht, steht noch mal auf einem völlig anderen Blatt. Ob man sagt, ich treffe mich mit anderen Menschen zum Beten, zum Austausch oder man fährt regelmäßig nach Taizé. Oder man ist bei den Pfadfindern und findet da das, was andere Leute in einer verfassten Kirche finden oder, oder, oder. Da gibt es unendlich viele Möglichkeiten.
DOMRADIO.DE: Was wünschen sich denn Menschen, die aus der Kirche austreten, von der Kirche?
Wiedenhaus: Vielleicht kann man die Frage umdrehen. Was fehlt ihnen? Ich glaube, ganz oft fehlt Ihnen der Respekt, die Akzeptanz vor der eigenen Lebenswirklichkeit, die in dem, was sie in der Kirche erleben, nicht vorkommt oder nicht vorkommen darf.
DOMRADIO.DE: Wie weit ist die Kirche schon auf einem Weg, dass sich das ändert? Stichwort Synodaler Weg. Gibt es Hoffnung, dass die Kirche damit Vertrauen zurückgewinnen kann?
Wiedenhaus: Offen gestanden, ich habe einen riesigen Respekt vor Leuten, die da gerade viel Herzblut investieren. Ich glaube, für viele ist das wirklich die letzte Chance, die sie der Kirche geben.
Ich glaube, viele schauen mit sehr viel Bangen darauf, was aus diesem Reformweg wird. Ich persönlich habe mehr und mehr den Eindruck, dass das Vertrauen verspielt ist und dass der Synodale Weg vielleicht tatsächlich der Schwanengesang ist. Gerade nach dem wie andere Länder darauf reagieren und was der Papst darüber sagt.
DOMRADIO.DE: Man hört die Warnung vor einer Kirchenspaltung in Deutschland durch den Reformweg. Was sagen Sie?
Wiedenhaus: Wenn ein paar 100.000 Leute aus der Kirche austreten, ist das eine Kirchenspaltung. Wir haben sie schon, wir suchen sie nur an der falschen Ecke. Weil sich daraus keine neue Körperschaft entwickelt hat, wird das so nicht wahrgenommen. Man tut so, als ob die Leute, die aus der Kirche austreten, nichts sind und diese ihren Glauben an den Nagel gehängt haben.
Aber ich würde sagen, es ist die Kirche im Exil. Es ist die Kirche der Verlassenen und nicht nur unbedingt der Verlassenden. Es ist die stille Kirchenspaltung. Denn wenn uns so eine riesige Anzahl von Leuten den Rücken zukehrt, obwohl sie oft noch gerne in Gemeinschaft ihre Glaubens- und Lebensfragen ansprechen wollen, obwohl sie gerne einen gemeinsamen Weg mit und auf Gott zugehen würden, dann haben wir diese Kirchenspaltung schon. Wir ignorieren sie bloß.
DOMRADIO.DE: Haben Sie Hoffnung?
Wiedenhaus: Ich rede mal nur von Deutschland und nicht von der Weltkirche. Vielleicht ist das, was jetzt zusammenbricht, was an Vertrauen verspielt wird und was gerade in einen Trümmerhaufen mündet, der Preis dafür, dass daraus irgendwann etwas Neues entsteht, was wir uns noch nicht vorstellen können und was dem Evangelium vielleicht gerechter wird als das, was wir jetzt haben.
Das Interview führte Bernd Hamer.