DOMRADIO.DE: Vielen sagt der Begriff "Kreisauer Kreis" heute nichts mehr. Ihr Vater hat ihn mitbegründet, benannt war er nach Ihrem Familiensitz Gut Kreisau in Schlesien. Was genau war das für ein Kreis?
Helmuth Caspar von Moltke (Sohn des von den Nazis ermordeten Widerstandskämpfers Helmuth James Graf von Moltke und seiner Frau Freya): Der Kreisauer Kreis war ein Widerstandskreis, der sich gegründet hatte, um für ein Deutschland nach dem Fall der Nazis vorzuplanen. Die meisten Vertreter dieses Kreises waren jüngere Leute, die weder in Machtpositionen noch in der Armee waren. Sie waren im kämpfenden Sinn nicht militärisch, sondern kamen aus der Zivilgesellschaft. Sie hatten keine Machtmittel, um die Nazis zu beseitigen und haben deswegen beschlossen, für den Zeitpunkt nach dem Fall des Naziregimes vorzuplanen.
Das haben sie noch vor dem Höhepunkt der Siege Hitlers 1940 begonnen, 1943 haben sie ihre Arbeit beendet und sind dann andere Wege gegangen. Die meisten von ihnen sind mit Stauffenberg Teil des Attentats vom 20. Juli 1944 geworden. Mein Vater allerdings nicht, weil er schon im Januar 1944, also sechs Monate zuvor, verhaftet worden war und von der Gestapo in Ravensbrück in einer Zelle festgehalten wurde.
DOMRADIO.DE: Mitglied im Kreisauer Kreis war zum Beispiel auch der Jesuitenpater Alfred Delp. Welche Rolle hat der Glaube im Kreisauer Kreis gespielt?
von Moltke: Der Kreisauer Kreis wollte bewusst aufbauen auf dem Christentum, sowohl auf dem evangelischen als auch auf dem katholischen. Deswegen hat der Kreis Vertreter beider Kirchen gesucht, und von katholischer Seite war Alfred Delp einer der führenden Teilnehmer. Später war Pater Delp gemeinsam mit meinem Vater im Gefängnis in Tegel und gemeinsam mit meinem Vater stand er vor dem berüchtigten Richter Freisler. Delp ist dann im Februar 1945 zwei Wochen nach meinem Vater hingerichtet worden.
DOMRADIO.DE: Welche Rolle hat der Glaube für Ihren Vater ganz persönlich gespielt hat, für seine Form des Widerstands?
von Moltke: Mein Vater war als jüngerer Mann nicht besonders kirchenbezogen, hat dann aber unter dem Druck der Naziherrschaft gemerkt, wie der Glaube ihm zu einem der wenigen Zufluchtsorte wurde. Und so ist er immer gläubiger geworden. Er hat in den letzten Jahren seines Lebens sehr von der Bibel gezehrt und ist als tief gläubiger Mann gestorben.
DOMRADIO.DE: Sie sind also der Sohn eines von den Nazis ermordeten Widerstandskämpfers. War das ein schweres Erbe?
von Moltke: Nein, ich kann nicht sagen, dass das ein schweres Erbe war. Denn ich habe immer in meinem Leben gewusst, wo wir gestanden haben. Aus meiner Sicht gesehen war das auf der richtigen Seite. So war es eher eine Hilfe für mich, als Deutscher zu leben.
DOMRADIO.DE: Aber Sie haben aus diesem Erbe auch eine Verantwortung abgeleitet.
von Moltke: Ja, das habe ich getan, und das lebe ich auch heute noch. Wir haben das Gut Kreisau in Schlesien, das im Familienbesitz war, 1945 verloren, es war dann viele Jahre lang ein polnisches Staatsgut. Aber nach der Wende kam es zurück, nicht als Besitz der Moltkes, sondern von den beiden Regierungen als Ort gewählt, um die Versöhnungsmesse im November 1989 zu feiern.
Dann haben die Regierungen geholfen, es zu einer Jugendbegegnungsstätte zu machen, einer der größten in Europa, die nach über 30 Jahre ihre Rolle als Treffpunkt für die Jugend von heute mit großem Erfolg weiter wahrnimmt. Für uns ist das natürlich auch ein Weg gewesen, um unsere Geschichte, die nun fast 80 Jahre alt ist, mit einer positiven, zukunftsbezogenen Botschaft zu vereinen.
DOMRADIO.DE: Manchen jungen Leuten scheint die Nazizeit heute im Grunde genauso weit weg wie das Römische Reich. Ihre Begegnungsstätte in Kreisau ist doch sicher auch ein Versuch, Geschichte lebendig zu halten?
von Moltke: Ja, das ist sie unbedingt. Und natürlich zielt die Arbeit dort auch darauf, gut mit Polen zusammenzuleben. Dort treffen sich Menschen, besonders junge Menschen aus allen Ländern. Aber die größten Gruppen werden von Deutschland und Polen gestellt. Polen ist eine große Nation, die seit Jahrhunderten neben uns lebt und mit der wir lernen müssen, miteinander in Frieden zu leben.
DOMRADIO.DE: Wir sprechen in einem Moment, in dem die rechtspopulistische AfD in Umfragen so gut dasteht wie noch nie zuvor. Wie fühlt sich das für Sie an, den Sohn eines von Nazis ermordeten Widerstandskämpfers?
von Moltke: Ich habe natürlich nichts, was ich mit der AfD teilen kann. Aber ich bin zutiefst Demokrat. Ich sehe es als Recht des Volkes, zu entscheiden, wer seine Vertreter sein sollen. Wir müssen akzeptieren, dass das auch Leute gewählt werden, mit denen wir nicht sehr viel zu tun haben. Allerdings verlange ich, dass alle Vertreter des Volkes, alle, die gewählt sind, auf dem Boden der deutschen Verfassung stehen müssen. Und das verlange ich auch von der AfD und ihren Mitgliedern.
DOMRADIO.DE: Macht Sie das denn traurig, wenn Menschen offenbar nichts aus der Geschichte gelernt haben?
von Moltke: Entweder muss man aus der Geschichte lernen oder sie neu durchleben. Und natürlich würde ich es vorziehen, wenn Deutschland aus der Geschichte lernt anstatt sie zu wiederholen.
DOMRADIO.DE: Suchen Sie denn das Gespräch? Zum Beispiel auch mit Leuten, die sagen 'Ich wähle die AfD aus Protest'?
von Moltke: Ich lebe ja im Ausland, in den USA und Kanada, bin also nicht regelmäßig im deutschen Gespräch aktiv. Ich lebe aber in Amerika, wo die selbe Diskussion mit Trump im Gange ist. Es ist also eine Diskussion, die auch in meinem täglichen Leben sehr spürbar ist.
DOMRADIO.DE: Was motiviert Sie - angesichts dieser Rechtsrucke in Europa, aber eben auch in den USA - weiterzumachen, Ihre ja auch sehr schmerzvolle Geschichte weiterzuerzählen?
von Moltke: Es war ja das Ziel meiner Eltern, die verschiedenen Teile der Gesellschaft - Arbeiter, Bauern, Bürger und auch die Eliten - stärker zusammenzubringen, also keinen Keil zwischen die verschiedenen Volksgruppen zu treiben. Und ich betrachte das immer noch als lohnendes Ziel, das wir auch in einer Zeit, wo eine beträchtliche Anzahl von Bürgern AfD wählt, verfolgen müssen.
DOMRADIO.DE: Wie viel Sorge macht Ihnen diese Entwicklung in Deutschland, also speziell im Heimatland der Täter von damals, aber natürlich auch in der ganzen Welt?
von Moltke: Sie bereitet mir Sorgen und ich beobachte sie mit großer Intensität. Aber es ist ja auch so, dass eine Verfassung nicht nur von Politikern verfolgt werden muss, sondern auch durch die Gerichtsbarkeit forciert und unterstützt werden. Das heißt, jegliches Vergehen gegen die Verfassung, sowohl in den USA als auch in Deutschland, muss vor Gericht kommen. Und ich bin der Meinung, dass die Gerichtsbarkeit in Deutschland sich nach 1945 wirklich bewährt hat.
DOMRADIO.DE: Das heißt, Sie sind optimistisch, dass die deutsche Demokratie wehrhaft ist?
von Moltke: Ja, das bin ich.
DOMRADIO.DE: Je mehr Zeit seit den Verbrechen der Nazis verstreicht, je mehr Zeitzeugen sterben, desto drängender stellt sich die Frage: Wie halten wir die Erinnerungskultur so wach, dass so etwas wirklich nie wieder möglich wird? Was ist Ihre Antwort darauf?
von Moltke: Unsere Arbeit in der Jugendbegegnungsstätte in Kreisau im heutigen Polen ist der Versuch einer Antwort. Diese Begegnungsstätte feiert in Polen heute noch den Widerstand meiner Eltern und präsentiert diesen Widerstand der Jugend. Und zwar zusammen mit dem Widerstand, den polnische Bürger später gegen Kommunismus geleistet haben. Das ist alles ein Auflehnen gegen autoritäre Regierungsformen gewesen und lebt jetzt in dieser Form in Polen weiter. Die Begegnungsstätte hilft sicher einer großen Anzahl von Jugendlichen, die Geschichte besser zu verstehen. Es kommen jedes Jahr um die 5000 Jugendliche nach Schlesien, um das zu sehen. Diese jungen Leute werden in der Begegnungsstätte über das Gedankengut des Widerstands informiert.
DOMRADIO.DE: Das machen Sie, das macht die Freya-von-Moltke-Stiftung in Kreisau. Sind Sie denn, wenn wir das noch mal weiterziehen, zufrieden mit der Erinnerungskultur hier in Deutschland? Finden Sie, dass junge Leute genug erfahren über das Dritte Reich, den Widerstand?
von Moltke: Das kann ich schlecht beurteilen. Ich kann nur sagen, dass wir in Kreisau uns bemühen, immer wieder darzustellen, wie der Widerstand gegen die Diktaturen sowohl in Deutschland als auch in Polen funktioniert hat. Das präsentieren wir allen Besuchern des heutigen Kreisau.
DOMRADIO.DE: Was wünschen Sie für Deutschland, für das Heimatland Ihrer Eltern?
von Moltke: Ich wünsche, dass Deutschland weiter eine führende und integrierte Rolle in Europa spielt.
Das Interview führte Hilde Regeniter.