Politologe Püttmann kritisiert Proteste von Klimaaktivisten

Selbstzerstörung unserer Freiheit

Ist ziviler Ungehorsam bei den Klimaprotesten erlaubt und wenn ja, wie weit darf dieser gehen? Politikwissenschaftler Andreas Püttmann sieht richtige Ziele verdunkelt und in den Geruch von Aggressivität gebracht. Ein Gastkommentar.

Autor/in:
Andreas Püttmann
Letzte Generation blockiert Verkehr / © Andreas Stroh (shutterstock)
Letzte Generation blockiert Verkehr / © Andreas Stroh ( shutterstock )

Gesetzestreue im demokratischen Rechtsstaat ist für Christen nicht einfach nur staatsbürgerliche Pflicht ohne Bezug zum Glauben. Vom Psalmistenwort "Im Reich dieses Königs hat man das Recht lieb" über Jesu Ermahnung, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist, bis zu Paulus’ Aufforderung, der Obrigkeit – deren damalige Standards waren schlechtere – loyal zu sein "um des Gewissens willen", ist das christliche Ideal zwar der im Gottesgehorsam (Apg 5,29) kritische Staatsbürger, aber nicht der eigensinnig rebellische. Dies gilt nochmals verstärkt in der grundgesetzlichen Demokratie, die der Staatsrechtler Josef Isensee als "bescheidenste Staatsform der Weltgeschichte" charakterisierte. Ihre Grundrechtssystematik und Staatsprinzipien weisen in Verbindung mit einer mächtigen Gerichtsbarkeit große Nähe zum christlichen Menschenbild auf. Bischof Joachim Reinelt sprach im Blick auf die Menschenwürdegarantie in Artikel 1 GG von "verwirklichtem Glauben".

Ein solches historisches Geschenk gefährdet man nicht durch selektive Rechtsbefolgung, Gesinnungsegozentrik oder Beiträge zur Radikalisierung von Protestformen. Zumal in einer Zeit, in der eh schon innere und äußere Feinde diesen Staat in nie gekannter Virulenz bekämpfen. Was eine bereits stark polarisierte Gesellschaft mindestens noch verbinden muss, ist die Achtung der Rechtsregeln, nach denen Konflikte ausgetragen und Probleme nur bearbeitet werden können. Nötigung, Übergriffigkeit und Schikane von Mitbürgern, die teils stundenlang von Privaten zur Betonung einer Dringlichkeit quasi in Geiselhaft genommen werden, sind mit der notwendigen Zivilität des Ringens um Problemlösungen unvereinbar.

Zumutungen des Rechtsgehorsams gelten für alle oder keinen

Dies gilt auch für die globale Herausforderung durch den Klimawandel, der nach wissenschaftlicher Erkenntnis wesentlich menschengemacht ist. Es hat nichts mit Leugnung oder Relativierung der prekären Lage und drohender Verwerfungen zu tun, wenn man den Kurzschluss vom Inhalt auf die Form der Auseinandersetzung ablehnt. Die Devise: "Der Zweck heiligt die Mittel" darf und kann keine Sonderrechte zu Straftaten für den einsichtigen Teil der Bürgerschaft begründen. Die Aufkündigung des Rechtsgehorsams ist nicht verallgemeinerbar im Sinne des Kategorischen Imperativs oder der Goldenen Regel: "Alles, was ihr wollt, dass es euch die Leute tun, das tut auch ihr ihnen" (Mt 7,12). Mit Bürgern, die sich per Selbstermächtigung vom Gesetzesgehorsam dispensieren, ist kein Staat zu machen. Würde die erstarkte politische Rechte Asylsuchendenheime oder Abtreibungskliniken blockieren, um dem für sie dringlichen Anliegen des drohenden "Volkstods" oder manifester Tötungen vorgeburtlichen Lebens Nachdruck zu verleihen, würde der meist linken Anhängerschaft der "Letzten Generation" vielleicht dämmern, dass die Zumutungen des Rechtsgehorsams in einer Gesellschaft der Freien und Gleichen entweder für alle oder für keinen gelten.  

Gegen das Gebot der Legalität werden belobigend "Friedlichkeit" und "Gewaltfreiheit" der Blockaden in Stellung gebracht. Doch wer unter Einsatz von angeklebter Körperkraft Mitbürger auf Straßen festsetzt, übt bereits Gewalt aus. Seine "Friedlichkeit" ist geborgt von jenen, die sich das gefallen lassen. Sie sind – meistens – friedlich, nicht die Blockierer. Wenn die den Erfolg des "friedlichen Verlaufs" für sich reklamieren, ist dies, so Josef Isensee, "eine Art moralischen Ausbeutertums derer, die sich über Rechtsbindungen hinwegsetzen, auf Kosten derer, welche die Rechtsbindung einhalten". Die Betonung des Selbstverständlichen, dass man friedlich demonstrieren wolle, ist sowieso pseudo-moralisch; man entspricht nur seiner Bürgerpflicht. Nicht "friedlich oder unfriedlich", sondern legal oder illegal lautet die wesentliche Unterscheidung im Rechtsstaat.

Kontraproduktive Effekte statt Einsicht

Daran ändert die von den Aktivisten postulierte Inkaufnahme von Strafe wenig. Denn weder der Freiheitsschaden blockierter Mitbürger (inklusive Risiken für die körperliche Unversehrtheit) wird dadurch ungeschehen gemacht, noch das schlechte Vorbild, noch der zusätzliche Aufwand für Ordnungskräfte und Justiz. Ganz abgesehen von der nicht zur erklärten Bußfertigkeit passenden Larmoyanz und öffentlichen Empörung, wenn Wiederholungstäter wirklich einmal in Haft genommen werden. Ein Kalkül der Verschonung widerspricht aber dem Konzept von civil disobedience, bei dem sich laut Martin Luther King "die Gefängnisse füllen" sollten; dann trete "sein Sinn nur um so klarer zutage". Kings und Gandhis Ungehorsam richtete sich gegen Kolonialismus und Rassismus, durch welche legale bürgerliche Mitwirkungsrechte vorenthalten wurden. Dies ist kategorial etwas anderes als der Einsatz freier Bürger für eine bestimmte Sachpolitik, die man für unabdingbar hält.

Ein Autofahrer versucht in Berlin, ein Mitglied der Gruppe Letzte Generation von der Straße zu zerren. / © Paul Zinken (dpa)
Ein Autofahrer versucht in Berlin, ein Mitglied der Gruppe Letzte Generation von der Straße zu zerren. / © Paul Zinken ( dpa )

Hinzu kommt: Der "Kipppunkt" der Duldung solcher Aktionen könnte auch ohne den Lackmustest der Nachahmung durch ganz andere Gruppen erreicht werden, wenn Betroffene des Spektakels und die übergroße Mehrheit der Bevölkerung zu einem so starken Missbilligungsbündnis anwachsen, dass die Hoffnungen auf einen Beitrag zum Klimaschutz der Einsicht in kontraproduktive Effekte von Blockaden weichen. Aktion ruft Reaktion hervor, und zwar nicht nur die der staatlichen Ordnungskräfte: Organisierte und fortgesetzte Rechtsbrüche sind geeignet, eine verunsicherte Mitte weiter in die Arme von Rechtspopulisten zu treiben, die sowieso propagieren, dass wir uns auf eine "linksgrüne Klimadiktatur" zu bewegen. Die richtigen Ziele der Klimaschutzbewegung werden überlagert und verdunkelt und in den Geruch von Aggressivität gebracht, die andere zwingen will statt sie zu überzeugen.

Ausrufungen des Widerstands durchziehen Protestgeschichte

Bezeichnend für das tatsächlich autoritäre Potenzial der Blockierer und ihres Anhangs ist die offen geäußerte Klage, "normale" Demos hätte ja "nicht zum Erfolg geführt", also müsse man den Protest verschärfen, um die Aufmerksamkeit zu steigern. Wohin soll diese Logik führen, wenn man entdeckt, dass auch "friedliche" Blockaden "keinen Erfolg" haben und die publizistische Gratifikation durch regelmäßige Berichterstattung allmählich nachlässt? Eskalationsrisiken beschrieb schon die Gewaltkommission der Bundesregierung 1990: "Hat man erst den Schritt hinein in die Subdimension der unverfassten illegalen Partizipation getan, dann allerdings besteht auch eine erhöhte (…) Chance. sich ein Engagement bei Akten politischer Gewalt zumindest vorstellen zu können. Gerade der Bereich des zivilen Ungehorsams ist also für das Auftreten von politischer Gewalt bedeutsam (…) als eine mögliche Voraussetzung im Einstellungsbereich und als ein situationaler Faktor insofern, als diese Akte staatliche Interventionen herausfordern".

Widerspruch gegen eine Politik, die man aus wohlüberlegten Gründen für verfehlt, ungerecht oder gefährlich hält, ist Grundrecht jedes Bürgers und manchmal moralische Pflicht. Widerstand gegen Institutionen, die das Recht zum Widerspruch schützen, ist Selbstzerstörung unserer Freiheit. Bürgerlicher Ungehorsam mag als letzte Option nicht restlos für alle politischen Eventualitäten ausgeschlossen werden können. Legitim wird er aber nur dann, wenn die verfassungsmäßigen Wege politischer Mitwirkung nicht mehr offen stehen. Versuche, voreilig den Widerstandsfall auszurufen, durchziehen die Protestgeschichte der Bundesrepublik, von den Nachrüstungsgegnern über die Anti-Atomkraft-Bewegung bis hin zu Corona-Querdenkern. Die Klimakrise liefert zwar die stärksten Argumente für die Betonung von Dringlichkeit und globaler Gefahr. Doch gibt es keinen Hinweis darauf, dass rechtswidriger Protest mit Schikanen gegen Mitbürger zur Problembewältigung beiträgt.

Quelle:
DR