DOMRADIO.DE: Sie befassen sich mit Schutz von Kindern und Schutzbedürftigen in der katholischen Kirche, beraten katholische Einrichtungen weltweit und sind aktuell in Indien. Wie ist denn der Stand beim Thema Kinderschutz in Indien?
Pater Hans Zollner (Direktor des Instituts für Anthropologie an der Päpstlichen Universität Gregoriana): Auf der einen Seite kann man sagen, dass die katholische Kirche in vielen Bereichen vorbildliche Arbeit in der Prävention macht. Es gibt hier ziemlich flächendeckend Schutzkonzepte, es gibt Leitlinien, es gibt Schulungen. Das machen nicht viele andere Institutionen hier, um nicht zu sagen – kaum jemand. Auf der anderen Seite ist es natürlich so, dass wie so oft auch hier der Buchstabe auf dem Papier nicht unbedingt umgesetzt wird und bei weitem die vielen Hunderte von Schulen, Kindergärten, Internaten usw. auch deutlich mehr Personal bräuchten, abgesehen von den Pfarreien, in denen Präventions-Beauftragte weithin Mangelware sind.
DOMRADIO.DE: Wie wird denn konkret Prävention in Indien betrieben?
Zollner: Es gibt Schulungen, es werden Leute unter anderem an unserem Institut ausgebildet, die dann Kurse erhalten, in denen Menschen sensibilisiert werden. Dazu muss man natürlich bedenken, dass in Indien der gesamte Bereich Sexualität, das Sprechen über Sexualität, schon mit großem Tabu belegt ist. Da gibt es ja noch einige Bereiche wie Homosexualität, über die man überhaupt gar nicht reden kann, weder in der Familie noch in der Öffentlichkeit, noch in den Medien oder Institutionen. Das macht die Arbeit vom Präventionsbeauftragten hier natürlich schwer, weil man zunächst mal eine Sprachfähigkeit und eine Sprachwilligkeit schaffen muss. Und das ist ein dickes Brett, das man da bohrt.
Aber wir haben hier eine ganze Reihe von Leuten, auch unter den Bischöfen, unter vielen Ordensleuten und auch unter den Laien, die genau in diese Richtung vorangehen und wichtige Arbeit auch für die Gesellschaft leisten. Man muss ja bedenken, dass die katholische Kirche mit vielen ihrer Einrichtungen, vor allem den Schulen und den sozial-karitativen Einrichtungen, praktisch mehr als 90 % Nicht-Katholiken erreicht und damit auch ausstrahlen kann in die Gesamtgesellschaft.
DOMRADIO.DE: Sie haben es angesprochen, das Thema Homosexualität ist ein Tabu in der indischen Gesellschaft. Das merken wir im Moment ja auch in der Weltsynode, dass es da sehr unterschiedliche Positionierungen zum Thema gibt. In Deutschland ist das ganz anders als in einigen afrikanischen Ländern, wo Homosexualität ja teilweise mit dem Tode bestraft wird. Welche Entwicklung sehen Sie in Indien? Bricht das auf? Befasst man sich mehr mit diesem Thema oder ist es da überhaupt nicht möglich, das anzusprechen?
Zollner: Meine Eindrücke sind natürlich auf diesem riesigen Kontinent schon sehr begrenzt. Aber ich meine, dass es mir möglich war, über Themen wie Homosexualität oder Missbrauch so zu reden, dass sich auch die Teilnehmenden an den Seminaren, Workshops und Vorträgen dazu bereitgefunden haben, auf die Themen einzusteigen. Das ist die Weise, wie wir vorgehen müssen. Es wird nicht gelingen, dass man von heute auf morgen eine riesen Veränderung herbeiführt. Aber es muss schon möglich sein, über Dinge zu reden, die bisher nicht mal im engsten Freundes- oder Familienkreis benannt werden konnten. Ich glaube, dass mehr und mehr Leute auch bereit sind, diesen Schritt mitzugehen.
DOMRADIO.DE: Ist denn das Thema sexualisierte Gewalt in der kirchlichen Öffentlichkeit in Indien angekommen?
Zollner: Das ist schon noch in weiten Teilen der kirchlichen Öffentlichkeit – und das betrifft bei weitem nicht nur die Priester, Bischöfe oder Ordensleute, sondern auch und vor allem unter den Gläubigen in den Gemeinden ein riesiges Tabuthema. Es ist mit großer Scham behaftet. Mir werden immer wieder Geschichten erzählt, wie auch in Afrika oder in anderen Teilen Asiens und Lateinamerikas, dass Eltern, deren Kinder missbraucht worden sind, zwar dies unter Umständen dem Bischof oder dem Provinzial des Missbrauchstäters anzeigen, aber dann dringend darum bitten, dass es keine öffentliche Anzeige gibt, keine kirchenrechtlichen Konsequenzen hat. Weil in dem Verständnis und in der Realität dann die Familien der Opfer in den Gemeinden, in den Dörfern, in den Stadtteilen sehr an den Pranger gestellt werden, so als ob man durch das Öffentlichmachen des Missbrauchs der Kirche schade, dem Image der Kirche schade und vor allem dem Priester und dem Bischof schade oder dem Provinzial oder dem Orden.
Eltern sagen also nicht: "Wir wollen als Eltern Gerechtigkeit, wir wollen, dass dieser Mann bestraft wird. Wir wollen, dass niemand mehr zu Schaden kommt." Sondern sie wollen nur Ruhe.
Dazu muss man wissen, dass das indische Zivilrecht eine Anzeigepflicht für alle Staatsbürgerinnen und -bürger vorsieht. Anders zum Beispiel als in Deutschland, wo ja nur bestimmte Berufsgruppen anzeigepflichtig sind, wenn sie von Missbrauch erfahren. In Indien ist es so, dass jede und jeder hier, wenn er oder sie über Missbrauch erfährt, dies bestimmten Staatsagenturen, unter anderem der Polizei, aber auch Sozialdiensten anzeigen müsste. Auch hier gilt, das Gesetz ist das eine, die Wirklichkeit ist was anderes. Insofern ist die Kirche wie überall auch immer ein Teil der Gesamtgesellschaft und trägt alle guten und alle schlechten Seiten mit.
DOMRADIO.DE: Wie unterstützen Sie denn die katholische Kirche vor Ort beim Thema Prävention?
Zollner: Unsere Arbeit am Institut für Anthropologie der Gregoriana zielt darauf, dass wir Leute ausbilden, die als Präventions- und Interventionsbeauftragte für Diözesen, Orden und Schulassoziationen tätig sind. Wir haben sehr viele Studierende aus den asiatischen Ländern, aus Indien und aus Afrika. Wir sind froh, dass da schon eine ganze Anzahl von Leuten gut ausgebildet zurückgekehrt ist nach Indien. Dann bieten wir mit dem E-Learning-Programm auch für einige indische, größere Institutionen und Ausbildungsinstitute den Inhalt an, den wir als Europäer, als Westler, liefern können. Der muss dann aber auch noch in den jeweiligen Kontext übersetzt werden, durch die entsprechenden Lehrerinnen und Lehrer, die dann auch versuchen, die kulturellen Besonderheiten eines so großen und auch so vielfältigen Themas mit den Anliegen der Prävention zu verbinden und effektiv zu machen.
DOMRADIO.DE: Noch mal zum Thema "Weltsynode" – was hören Sie da aus den Gesprächen? Was, erhofft man sich in Indien, sollte sich an der Situation im Allgemeinen aber wie auch im Speziellen beim Thema Missbrauch ändern?
Zollner: Die Synode wird sicher nicht verbunden mit dem Thema Missbrauch. Das ist eher fern der Gedankenwelt. Was mich überrascht, das habe ich auch schon in anderen außereuropäischen Ländern erlebt, dass die Synode bei den Menschen, in den Pfarreien, in den Ordensgemeinschaften, in den Diözesen angekommen ist als Thema. Und ich bekomme mit, dass ein Gebet, ein Interesse da ist für die Synode. Ich glaube nicht, dass da besonders konkrete Anliegen dahinterstehen. Sicherlich ist mir zum Beispiel am Dienstagnachmittag in Bangalore bei dem Workshop für etwa 100 Ordensfrauen ein deutliches Bedürfnis begegnet, die sehr stark hierarchische Struktur der indischen Kirche aufzubrechen. Sie haben den Wunsch, dass die Stimme der Frauen in der Kirche vorangetrieben wird. Das scheint aber nicht mit der Frage nach Ämtern wie Diakoninnen oder Priesterinnen verbunden. Die Ämterfrage, glaube ich, ist nur bei ganz wenigen verbreitet. Aber das Empfinden, dass zum Beispiel Frauen eine größere Rolle auch in der Struktur und in der Verantwortlichkeit für die Kirche haben sollen, das, meine ich, ist schon mit dem Empfinden und den Wünschen an die Synode verbunden.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.