epd: Wie kann der Krieg in der Ukraine beendet werden - durch mehr Waffenlieferungen des Westens, wie vielfach gefordert wird?
Thorsten Latzel (Rheinischer Präses der Evangelischen Kirche): Das ist in erster Linie eine politische Frage. Die Ukraine hat ein selbstverständliches, legitimes Recht zur Selbstverteidigung und auf territoriale Integrität. Eine der größten Schwierigkeiten ist, dass es noch keine wirkliche Vorstellung davon gibt, wie eine Friedenslösung aussehen kann, wenn nach Ende des russischen Angriffskriegs die Waffen schweigen. Auf jeden Fall braucht es Sicherheitsgarantien für die Ukraine. Und klar ist, dass es die Aufarbeitung von Schuld und einen Versöhnungsprozess geben muss angesichts der massiven Menschenrechtsverletzungen und Grausamkeiten.
Es ist daher notwendig, den Dialog zu stärken mit Menschen, die sich für Verständigung einsetzen wollen. Ein gutes Zeichen ist es jetzt gewesen, dass Menschenrechtler aus der Ukraine und von der russischen Organisation Memorial den Friedensnobelpreis erhalten haben.
epd: Stimmen Sie der auch innerhalb der Kirche geäußerten Kritik zu, die evangelische Friedensethik sei zu stark pazifistisch orientiert?
Latzel: Frieden ist ein zentrales Thema des christlichen Glaubens.
In der evangelischen Kirche ist eine große Bandbreite an Positionen dazu vertreten, und das ist auch gut so. "Suche Frieden und jage ihm nach", heißt es in Psalm 34, Vers 15 - das Ringen um Frieden war und ist nie einfach. Klar ist, dass wir uns als Kirche konsequent für Frieden einsetzen, auch wenn die Vorstellungen über die Wege dahin durchaus verschieden sind. Frieden verstehen wir in einem umfassenden Sinne, das ist viel mehr als das Schweigen der Waffen.
Es geht auch darum, gerechte Verhältnisse zu fördern und einen nachhaltigen Umgang mit der Schöpfung zu stärken. Eine der Positionen in unserer Kirche ist eine pazifistische Haltung. Es wäre aber falsch, Pazifismus mit Naivität oder Nichtstun gleichzusetzen.
epd: Was ist die Aufgabe der Kirche mit Blick auf diesen Konflikt?
Latzel: Als Kirche haben wir zuallererst eine friedenspädagogische Aufgabe: Wir sollen Frieden und Versöhnung stiften. Der Krieg in der Ukraine zeigt ja, dass Fragen von Schöpfung, Gerechtigkeit und Frieden zusammenhängen. Es wird beispielsweise auch ein Energiekrieg geführt und Hunger, Kälte werden als Waffen eingesetzt, was Menschen in vielen weiteren Länder weltweit betrifft.
Als Christen versuchen wir, Frieden in einem umfassenderen Sinne zu sehen und uns dafür einzusetzen. Zugleich realisieren wir, dass wir in einer unerlösten Welt leben und damit umgehen müssen, wie man die Wirklichkeit des Bösen, Unrecht und grausame Gewalt einhegen kann. Dazu gehört auch die Möglichkeit von rechtsetzender Gewalt, deren Anwendung stärkeres Leid von Opfern verhindert.
Wichtig ist mir, dass wir angesichts der massiven Menschen- und Völkerrechtsverletzungen keine abstrakten Diskussionen führen, sondern uns dem konkreten Leiden der Menschen in der Ukraine stellen, wo Millionen auf der Flucht sind oder nicht wissen, wie sie durch den Winter kommen werden. Ich bin allen Gemeinden dankbar, die sich hier beispielhaft bei der Unterbringung und Versorgung von Geflüchteten engagieren, Sprachkurse anbieten, Spenden sammeln und so christliche Nächstenliebe leben. Das ist eine der wichtigsten Weihnachtspredigten in diesem Jahr.
Das Interview führte Ingo Lehnick.