DOMRADIO.DE: Wir haben am vergangenen Wochenende bereits mit Ihnen gesprochen, am Tag nach dem Messerattentat in Solingen. Sie waren geschockt, hilflos und sprachlos. Hat sich in den vergangenen beiden Tagen daran etwas geändert?
Pfarrer Michael Mohr (Solinger Stadtdechant): Ja und nein. Auf der einen Seite gibt es die Entwicklung, dass der Täter sich gestellt hat. Für mich ist aber mindestens genauso wichtig, dass die Schwerverletzten über den Berg sind. Da ist Erleichterung, was die Verletzten angeht und da ist auch ein etwas gewachsenes Sicherheitsgefühl, seit der Täter sich gestellt hat. Das ist die eine Seite.
Auf der anderen Seite hat man während der Trauerfeier gemerkt, dass die Verarbeitung erst beginnt, dass es sozusagen ein “Sacken lassen” braucht, um überhaupt annähernd begreifen zu können, was da passiert ist.
Es ist beides. Es ist immer noch eine gewisse Fassungslosigkeit da. Die Hilflosigkeit hat ein Stück abgenommen, weil sich manche Dinge in die richtige Richtung entwickeln.
DOMRADIO.DE: Im Rahmen der 650-Jahr-Feier war am Sonntagmorgen eigentlich ein ökumenischer Festgottesdienst geplant. Den haben Sie kurzfristig in eine Trauerfeier umgewandelt, die von den Menschen auch angenommen wurde. Genauso wie die Chance, im Anschluss mit Seelsorgerinnen und Seelsorgern zu sprechen. Wie sind die Menschen Ihnen begegnet?
Mohr: Zum einen war für uns überraschend, dass so viele Menschen gekommen sind. Ich habe damit gerechnet, dass viele kommen wollen. Ich hätte aber auch damit gerechnet, dass manche aus Sorge doch nicht kommen. Auch da hat die Entwicklung letztlich so zu einem Sicherheitsgefühl beigetragen. Der Bedarf zu sprechen, ist immer noch da.
Ich hatte sowohl in dem Gottesdienst um 10:00 Uhr in der Stadtkirche als auch anschließend in der Sonntagsmesse die Gelegenheit, viele Menschen zu treffen. Da würde ich zwei Seiten beleuchten.
Ich persönlich habe deutlich gemerkt, wie gut mir die Feier von Gottesdiensten tut, um das bei Gott zu lassen, um es theologisch zu sagen.
Es haben sich viele Menschen anschließend dafür bedankt, dass wir als ökumenisch zusammenarbeitende Kirchen wirklich einen guten Job gemacht haben.
DOMRADIO.DE: Bei der Frage nach den Hintergründen und dem Täter sind die Behörden weiter gekommen. Ein junger Mann hat sich der Polizei gestellt, ein Flüchtling. Die Polizei geht offensichtlich mittlerweile von einem Terroranschlag aus. Rechte Stimmen werden daraufhin immer lauter, sie fordern mehr Abschiebungen. War diese Entwicklung erwartbar?
Mohr: Leider ja. Ich finde das ganz seltsam. Auf der einen Seite geht es um diesen Einzelfall, um diese schreckliche Tat. Man ist mit den Gedanken bei den Opfern, bei den Familien und versucht, seelsorgerisch für die Menschen da zu sein.
Auf der anderen Seite war es schon bei der städtischen Gedenkfeier am Samstagabend so, dass nebenan Menschen teilweise Parolen herausposaunt haben. Ich finde das unerträglich. Es ist gerade noch die Zeit zu trauern. Es ist nicht die Zeit zu instrumentalisieren und irgendwelche extremen oder schnellen Lösungen zu finden, egal in welche Richtung.
DOMRADIO.DE: Wie wird die Woche für Sie weitergehen? Kann so etwas wie Alltag einkehren?
Mohr: Für mich persönlich weiß ich nicht genau, wie die Woche weitergeht. Es gibt ein paar Termine, das sind alltägliche dienstliche Termine. Heute kommen der Bundeskanzler und der Ministerpräsident. Da bin ich nicht involviert. Das heißt aber, Alltag ist noch nicht möglich. Eines habe ich an diesem Wochenende wirklich gelernt: Schnell und kurzfristig zu reagieren, teilweise Pläne umzuschmeißen und einfach da zu sein in dem Moment, wo es nötig ist.
Das Interview führte Tobias Fricke.