Sozialdemokrat Thierse sieht SPD und Union vor großer Herausforderung

"Künftige Koalition muss erfolgreich sein"

Wolfgang Thierse warnt davor, sich nach deren Erstarken bei der Bundestagswahl auf die AfD zu fixieren. Seiner Partei rät er zur Profilschärfung; die Rolle der Kirchen sieht er darin, zur Entgiftung der Atmosphäre beizutragen.

Autor/in:
Hilde Regeniter
Plenarsaal des Deutschen Bundestags / © shirmanov aleksey (shutterstock)

DOMRADIO.DE: Die Ergebnisse der Bundestagswahl sind nicht überraschend. Wie ist Ihr Fazit?

Wolfgang Thierse / © Lara Burghardt (DR)
Wolfgang Thierse / © Lara Burghardt ( DR )

Wolfgang Thierse (Ehemaliger Bundestagspräsident und ehemaliges Mitglied im Zentralkomitee der Deutschen Katholiken / ZdK): Es ist ein furchtbares und niederschmetterndes Ergebnis, zumal für die SPD. Für die Sozialdemokratie ist es eine Niederlage von historischer Dimension – das schlechteste Ergebnis für die SPD seit 130 Jahren.  Das tut schon weh und besonders tut mir das Wahlergebnis in Ostdeutschland weh. 

DOMRADIO.DE: Im Vergleich zur Bundestagswahl 2021 hat die in Teilen gesichert rechtsextreme AfD ihren Stimmenanteil verdoppelt. Friedrich Merz macht die Ampel dafür verantwortlich. Was sagen Sie?

Thierse: Die Ampel ist abgewählt worden, das ist ja unübersehbar, insgesamt minus 19,5 Prozent für die drei Parteien, die die Ampel getragen haben. Aber das ist nicht alles. Wir sehen in den westlichen Demokratien in Europa insgesamt eine Verschiebung der politischen Stimmungslage nach rechts. Vor allem aber hat das Thema Migration und innere Sicherheit eine dominierende Rolle gespielt. Da geht es um eine wirkliche Problematik.  Aber es war durchaus negativ, dass Friedrich Merz, dass die CDU dieses Thema so stark ins Zentrum des Wahlkampfs gestellt haben. Die Abstimmung Ende Januar im Bundestag hat es noch einmal in den Fokus gerückt.

Wolfgang Thierse

"Die Zuspitzung des Wahlkampfes auf die Migration war ein Fehler und hat der Union nicht genutzt."

Es ist ein hoch emotionalisiertes Thema, das zugleich nicht einfach aufzulösen ist. Es gibt nicht die einfache, schnelle Lösung, die viele sich wünschen und die manche, wie die Populisten rechts außen, suggerieren. Die Zuspitzung des Wahlkampfes auf die Migration war ein Fehler und hat der Union nicht genutzt, schließlich sind knapp eine Million Wähler von der CDU zur AfD gewechselt. In Ostdeutschland hat das noch einmal eine größere Rolle gespielt bei Menschen, die so viele Veränderungen zu ertragen hatten und jetzt den Wunsch nach einfachen, schnellen, flotten Lösungen haben. Solche Lösungen versprechen ihnen die AfD-Leute. 

DOMRADIO.DE: In den Wochen vor der Wahl haben andererseits Zehntausende, teils Hunderttausende für die Demokratie und gegen Rechtsextremismus demonstriert, auch in den neuen Bundesländern. Warum schlägt sich das in den Wahlergebnissen nicht nieder? 

Thierse:  Na ja, die Wahlergebnisse zeigen eben, wie gespalten die Gesellschaft in diesen Fragen ist.  Auf der einen Seite ist eine Partei erfolgreich, die teilweise rechtsextremistische, jedenfalls antidemokratische Züge hat. Auf der anderen Seite wollen auch in Ostdeutschland immer noch mehr als die Hälfte der Wähler und damit die Hälfte der Bürger diese Demokratie verteidigen, die sie als ihre betrachten. Sie wollen ein offenes Land verteidigen. Diese Auseinandersetzung wird auch die nächsten Jahre bestimmen; sie wird auch das Regierungshandeln im Bund wie in den Ländern bestimmen. 

Friedrich Merz (CDU), Parteivorsitzender und Kanzlerkandidat, spricht im Konrad-Adenauer-Haus während eines Interviews. Am Sonntag fand die vorgezogene Wahl zum 21. Deutschen Bundestag statt.  / © Sebastian Christoph Gollnow (dpa)
Friedrich Merz (CDU), Parteivorsitzender und Kanzlerkandidat, spricht im Konrad-Adenauer-Haus während eines Interviews. Am Sonntag fand die vorgezogene Wahl zum 21. Deutschen Bundestag statt. / © Sebastian Christoph Gollnow ( (Link ist extern)dpa )

DOMRADIO.DE: Merz hat die SPD im Wahlkampf immer wieder düpiert. Jetzt erscheint eine große Koalition als einzig gangbarer Weg und die potenziellen Partner stehen unter enormen Druck. Trauen Sie einer schwarz-roten Regierung denn zu, tatsächlich ein Bollwerk gegen den Rechtsextremismus zu bilden? 

Thierse: Diese Koalition muss um unseres Landes Willen erfolgreich sein. Sie muss erfolgreich sein, auch wenn sie keine Wunder versprechen darf. Sie muss energisch die Problemlösung angehen und auch das Migrationsproblem Schritt für Schritt einer Lösung näherbringen. Sie muss Regeln durchsetzen und – das ist das Entscheidende – sie muss Politik für Investitionen in unsere wirtschaftliche und soziale Zukunft organisieren. Sie muss das tun, ohne den Sozialstaat kaputt zu sparen.

Diese Koalition muss die Früchte und die Lasten, die Gewinne und die Schmerzen des notwendigen Wandels fair und gerecht verteilen. Aber sie darf sich nicht vor dem Wandel drücken, sondern sie muss Wandel gestalten wollen. Da geht es natürlich vor allem um Investitionen in unsere Wirtschaft, in Innovationskraft, in die Infrastruktur und auch in Bildung. Weil das alles nicht kostenlos zu haben ist, wird es also ohne Zweifel bittere Verteilungskonflikte und Streit um die angemessene Finanzierung und Verteilung der Lasten geben. Das ist so.

Wolfgang Thierse

"Diese Ampel hat nicht nur Fehler begangen, aber der ständige Streit hat dem Land sehr geschadet."

Aber die Koalition darf sich nicht davor drücken und sie muss sich einig werden. Denn der Streit der Ampel hat ja dazu geführt, dass sie abgewählt worden ist. Diese Ampel hat nicht nur Fehler begangen, aber der ständige Streit hat dem Land sehr geschadet und stark zur miesen Stimmung beigetragen. Wesentlich verursacht hat diesen Streit die FDP, die immer wieder die Rolle der Opposition in der Regierung gespielt hat. 

DOMRADIO.DE: Viele halten die künftige Regierungsarbeit für die letzte Chance, den Siegeszug des Rechtspopulismus im Land doch noch zu stoppen. Teilen Sie diese Einschätzung? 

Thierse: Natürlich hängt viel vom Erfolg der künftigen Regierung ab. Wobei Erfolg heißt, Schritt für Schritt die ängstigenden Probleme zu lösen und zwar ohne Wunder zu versprechen, die es nicht geben wird. Das ist wichtig für die zukünftigen Wahlen. Aber ich warne zugleich davor, wie das Kaninchen auf die Schlange jetzt immerfort auf die AfD zu starren und sie damit immer noch mehr aufzuwerten.

Jetzt sind wir verständlicherweise erschrocken über deren Wahlergebnis, über die  Verdopplung der Stimmen und das gute Ergebnis in Ostdeutschland. Aber wir dürfen uns dadurch nicht lähmen lassen und nicht davon bestimmen lassen. Wir müssen uns immer daran erinnern, dass es einen selbstbewussten, demokratischen Teil dieses Landes gibt. Die und die Wähler der Demokraten sind immer noch klar in der Mehrheit, sie machen schließlich Dreiviertel der Wähler aus. 

Alice Weidel, AfD-Bundesvorsitzende, beim Bundesparteitag iIn Riesa. / © Sebastian Kahnert (dpa)
Alice Weidel, AfD-Bundesvorsitzende, beim Bundesparteitag iIn Riesa. / © Sebastian Kahnert ( (Link ist extern)dpa )

DOMRADIO.DE: AfD-Wähler fühlen sich mit ihrer Wahlentscheidung übergangen und bezeichnen die Brandmauer als undemokratisch. Warum ist es dennoch keine Option, sich die AfD im operativen Regierungsgeschäft selbst entzaubern zu lassen? 

Wolfgang Thierse

"Nur weil eine Partei gewählt ist, ist sie noch nicht demokratisch."

Thierse: Nur weil eine Partei gewählt ist, ist sie noch nicht demokratisch. Nur weil eine Partei gewählt ist, muss man mit ihr nicht regieren, sondern es muss Mehrheiten geben. Man muss sich einigen können auf das, was man miteinander tun will. Da will ich an die CDU, da will ich an Friedrich Merz glauben, dass sie mit dieser Partei vernünftigerweise nicht zusammen regieren können. Schließlich reden wir von einer Partei, die den Euro abschaffen und aus der Europäischen Union ausscheiden will, die sich auf die Seite Putins und des Trumpschen Imperialismus begibt.

Mit einer Partei, die durch die Schließung von Grenzen unseren Wohlstand gefährden würde, kann man vernünftigerweise nicht zusammen regieren. Es ist nicht undemokratisch, eine Zusammenarbeit mit einer solchen Partei auszuschließen. Undemokratisch wäre es dagegen, sich auf eine solche Partei einzulassen. Eine Mehrheit der Bürger in diesem Land ist mit den Vorhaben dieser Partei nicht einverstanden, Dreiviertel der Bürger wollen sie nicht. Das zeigt das Wahlergebnis schließlich auch. Die AfD hat 20 Prozent bekommen, nicht etwa 45 oder gar über 50 Prozent.

DOMRADIO.DE: Sie sind ein erfahrener ostdeutscher Sozialdemokrat. Was ist nach dieser Wahl Ihr dringendster Ratschlag an die Genossen und Genossinnen?

Thierse: Die SPD steht vor einer furchtbar schwierigen Herausforderung. Sie hat eine kapitale Niederlage erlitten. Jetzt muss sie unbedingt wieder ihr Profil schärfen, das thematisch zerfranst ist. Nachdem sie zu viele Nebenthemen und Nebenschauplätze bedient hat, muss sie sich wieder konzentrieren auf die wichtigen Themen wie Arbeit, Einkommen, wirtschaftliche Zukunft, Zukunft unseres Sozialstaates. Die Arbeiterschaft und insgesamt die Mitte dieser Gesellschaft muss wieder Adressatin unserer Politik sein.

Es darf nicht mehr darum gehen, diese oder jene Sonderinteressen zu bedienen. Darum geht es, und das muss deutlicher werden. Zugleich muss die SPD, weil gar nichts anderes möglich ist, in eine Regierung gehen. Das heißt, sie muss sowohl ihr Profil zu schärfen versuchen und zugleich kompromissfähig mit der CDU sein, weil nicht anders eine demokratische Regierung möglich ist. Eine ziemlich schwierige Herausforderung!

DOMRADIO.DE:  Die Kirchen hatten sich im Wahlkampf mit mehreren Kampagnen für Demokratie stark gemacht und sich in der Migrationsdebatte mit der Union angelegt. Wo sehen Sie die Rolle der Kirchen in der kommenden Zeit?

Thierse: Die Kirchen sollen vernünftigerweise ihre Stimme weiter erheben, wenn es um Grundfragen des Menschseins geht. Sie sollen einen Beitrag dazu leisten, dass in einer teilweise vergifteten und zugespitzten Atmosphäre auch wieder Konsens und Kompromisse möglich sind. Sie sollten dazu beitragen, dass man miteinander redet, dass Kommunikation möglich ist. Es gibt zu viel Hass in unserer Gesellschaft, Hass, der vor allem von rechts außen erzeugt wird. Die Kirchen sollten dagegenhalten mit dem Versuch, die Stimmung zu entgiften.

Das Interview führte Hilde Regeniter.

Vorläufiges Ergebnis der Bundestagswahl 2025

Die Union mit ihrem Kanzlerkandidaten Friedrich Merz hat die Bundestagswahl gewonnen - mit großem Abstand vor der zweitplatzierten AfD und der SPD, die auf ein historisches Tief stürzt. Das geht aus dem vorläufigen Ergebnis der Bundeswahlleiterin in der Wahlnacht hervor. BSW und FDP scheitern demnach an der Fünf-Prozent-Hürde und verpassen den Einzug ins Parlament. 

Stimmzettel der Briefwahl für die Bundestagswahl werden ausgezählt. / © Bernd Weißbrod (dpa)
Stimmzettel der Briefwahl für die Bundestagswahl werden ausgezählt. / © Bernd Weißbrod ( (Link ist extern)dpa )
Quelle:
DR

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