Stuttgarter Vesperkirche arbeitet seit 30 Jahren diakonisch

"Armut, Einsamkeit und Würde"

In Kirchen werden Gottesdienste gefeiert. Die evangelische Kirche hat mit anderen Angeboten schon viel Erfahrung gesammelt. Seit dreißig Jahren leistet die Vesperkirche St. Leonhard in Stuttgart einen ganz anderen Dienst am Menschen.

Vesperkirche Stuttgart (Archiv) / © Volker Hoschek (epd)
Vesperkirche Stuttgart (Archiv) / © Volker Hoschek ( epd )

DOMRADIO.DE: Was ist eine Vesperkirche?

Pfarrerin Gabriele Ehrmann, Diakoniepfarrerin und Leiterin der Vesperkirche Stuttgart. / © Monika Johna (privat)
Pfarrerin Gabriele Ehrmann, Diakoniepfarrerin und Leiterin der Vesperkirche Stuttgart. / © Monika Johna ( privat )

Gabriele Ehrmann (Diakoniepfarrerin und Leiterin der Vesperkirche St. Leonhard in Stuttgart): Eine Vesperkirche bietet ein Vespern in der Kirche. Vespern ist schwäbisch und heißt, wir essen in der Kirche. Dieses Format wurde vor 29 Jahren in Stuttgart in der Leonhardskirche begonnen. In diesem Jahr machen wir es dies zum 30. Mal.

DOMRADIO.DE: Welche Erfahrungen haben Sie im Laufe der Jahrzehnte damit gemacht? Wer kommt und warum? 

Ehrmann: Es kommen ganz unterschiedliche Menschen. Wir haben dazu Befragungen gemacht. Diese haben gezeigt, dass wir vor allem ältere Menschen zwischen 50 und 70 zu Gast haben. Das sind Menschen, die arbeitslos sind, die zum Teil in Rente sind und nur eine kleine Rente haben, mit der sie kaum zurechtkommen.

Zu uns kommen auch Menschen, die eine chronische Erkrankung haben und aufgrund dieser Erkrankung zu wenig zum Leben haben. Eine dritte Gruppe sind Menschen, die suchtkrank sind, sei es Alkohol oder Drogen. Im Grunde kommen Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen.

DOMRADIO.DE: Wie und warum haben Sie denn damals mit dem Angebot angefangen? 

Gabriele Ehrmann

"Das ist das Beste, was die Kirche hat. Es ist wie ein Wohnzimmer. "

Ehrmann: Angefangen hat der Diakoniepfarrer Martin Fritz, mein Vorvorgänger. Der hat den Satz gesagt: "Wir wollen ein Zuhause auf Zeit für die Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen." Diese Menschen sollen in die Mitte kommen, sich wertgeschätzt fühlen und bei uns einen Ort haben, wo sie Gemeinschaft erleben und merken, dass sie Mensch sind.

DOMRADIO.DE: Wie sind Sie an diese Menschen gekommen? Manche haben Vorbehalte gegenüber der Kirche.

Ehrmann: Das war damals kein Problem. Es gibt ein Buch von Pfarrer Fritz, in dem Gäste zitiert werden, die überwältigt waren, dass man ihnen ein Gotteshaus zur Verfügung stellt. Das ist das Beste, was die Kirche hat. Es ist wie ein Wohnzimmer. Wir räumen das für diese Menschen aus, reinigen es, legen Ihnen einen vernünftigen Boden rein, stellen Tische und Stühle auf und lassen die Türen offenstehen. Das wurde honoriert und das wird bis heute honoriert.

Die Vesperkirche St. Leonhard in Stuttgart am 2. März 2023. / © Monika Johna (privat)
Die Vesperkirche St. Leonhard in Stuttgart am 2. März 2023. / © Monika Johna ( privat )

DOMRADIO.DE: Müssen Sie für Ihr Angebot werben?

Ehrmann: Die Vesperkirche hat sich in Stuttgart und an vielen anderen Orten etabliert. Stuttgart ist die Mutter der Vesperkirchen. Es gibt allein in der Württembergischen Landeskirche an die 40 Vesperkirchen. Es ist ein Format, das für die Zukunft geschaffen ist. Es ist nichts Veraltetes.

Wir müssen da nicht werben, das spricht sich von Mund zu Mund weiter. Natürlich hängen wir auch Plakate auf und geben Informationsmaterial an die Beratungsstellen weiter, aber ich glaube, sehr viele wissen davon. Vor allem die, die es nötig haben oder es brauchen. 

DOMRADIO.DE: Mit der Vesperkirche lassen Sie etwas vom Reich Gottes wahr werden. Inwiefern?

Gabriele Ehrmann

"Es spielt keine Rolle, welchen Sozialstatus jemand hat, wo er herkommt, wie viel Geld er hat, welcher Kultur er zugehört."

Ehrmann: Hinter all unserem Tun steht diese große Vision vom gemeinsamen großen Gastmahl, zu dem alle eingeladen sind. Ich glaube, ein Stück von dieser Vision von Gottes Reich, dem Reich der Liebe, blitzt immer wieder in der Vesperkirche auf, wenn wir dort beieinandersitzen.

Es spielt keine Rolle, welchen Sozialstatus jemand hat, wo er herkommt, wie viel Geld er hat, welcher Kultur er zugehört. Wir sind so verschieden, so unterschiedlich und trotzdem sitzen wir gemeinsam an einem Tisch und essen das leckere Mittagessen, das wir jeden Tag unseren Gästen servieren.

DOMRADIO.DE: Wie ist Ihre Vision für die Zukunft der Kirche in den nächsten 30 Jahren?

Ehrmann: Für mich ist das Zentrum der Vesperkirche, dass wir diese Gemeinschaft miteinander leben, sodass jeder Mensch seine Würde hat, die er geschenkt bekommen hat, die ihm niemand nehmen kann und darf und dass diese Würde in diesem Raum eine große Rolle spielt. In der Zukunft vielleicht noch viel mehr als in der Gegenwart.

Ich glaube, dass das Thema Einsamkeit weiterhin ein wichtiges Thema sein wird. Armut, Einsamkeit und die Würde eines jeden Menschen. Jeder hat Platz an unserem Tisch und das wollen wir in der Zukunft auch leben.

Das Interview führte Dagmar Peters.

Wohnungslosigkeit in Deutschland und Europa

372.000 wohnungslose Menschen leben in Deutschland aktuell in Einrichtungen der Kommunen und der FreienWohlfahrtspflege. Diese Zahl hat das Statistische Bundesamt Anfang August bekannt gegeben. Damit hat sich die Zahl der Wohnungslosen gegenüber dem Vorjahr mehr als verdoppelt (2022: 178.000). Dieser Anstieg ergebe sich zum Teil aus einer verbesserten Datenlage sowie aus dem Zuzug von geflüchteten Ukrainern und Ukrainerinnen, teilt die Diakonie Deutschland mit. 35 Prozent aller untergebrachten wohnungslosen Personen kämen aus der Ukraine.

SKM Köln hilft Obdachlosen / © Dutchmen Photography (shutterstock)
SKM Köln hilft Obdachlosen / © Dutchmen Photography ( shutterstock )
Quelle:
DR