DOMRADIO.DE: Die anhaltenden Auseinandersetzungen zwischen GdL und Deutsche Bahn sowie deren Auswirkungen strapazieren inzwischen die Nerven vieler Bahnkunden. Wie gerechtfertigt sind die Forderungen der Lokführer-Gewerkschaft?
Prof. Dr. Peter Schallenberg (Lehrstuhl für Moraltheolgie der Theologischen Fakultät Paderborn und Direktor der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle Mönchengladbach): Die Forderungen der Gewerkschaft halte ich grundsätzlich für berechtigt und verhandelbar, allerdings mit weit weniger ideologischer Schärfe. Einigung wäre möglich gewesen, da die Deutsche Bahn den Forderungen sehr weit entgegen gekommen sind.
Der Streik war von der Gewerkschaft um jeden Preis gewollt, um Stärke zu demonstrieren. Das ist in jeder Hinsicht ungerechtfertigt und scharf zu kritisieren aus meiner Sicht!
DOMRADIO.DE: Das Streikrecht ist in Deutschland ein hohes Gut und ist im Grundgesetz verankert. Warum?
Schallenberg: Das Streikrecht hängt eng mit der Tarifautonomie der Tarifpartner zusammen. Anders als in anderen Industrieländern gehen wir grundsätzlich in Deutschland von Tarif- und Sozialpartnerschaft, also von gütlichen Einigungen aus, anders etwa als in der französischen und italienischen Tradition und natürlich ganz anders als in totalitären Systemen, in denen Löhne und Tarife zentral verordnet werden.
Insofern ist das Streikrecht der Gewerkschaften ein Instrument der Stärkung der grundsätzlich als schwächer angesehenen Arbeitnehmerseite im Tarifkampf. Diese Sicht ist in vielen Branchen inzwischen antiquiert, zumal in der Aufrechterhaltung des öffentlichen Verkehrssystems.
Hier war es ein verhängnisvoller Fehler, vom Berufsbeamtentum ohne Streikrecht und bei guter Versorgung abzugehen und den Verkehr zu betrachten wie irgend ein beliebig zu produzierendes Produkt, auf das im Notfall und bei Streik auch fallweise verzichtet werden könnte. Denn der Verkehr ist existenzsichernd.
DOMRADIO.DE: Der Bund katholischer Unternehmer (BKU) fordert strengere Regelungen bei bestimmten Streiks. Mit einem Streikgesetz solle ein verbindlicher gesetzlicher Rahmen für die Tarifpartner geschaffen werden. Wird damit eventuell ein Grundrecht eingeschränkt?
Schallenberg: Genau wie der BKU halte ich im Fall öffentlicher Güter, wie etwa des öffentlichen Verkehrs oder auch der Energieversorgung, eine massive Einschränkung des Streikrechts für unbedingt geboten und notwendig.
Das Grundrecht auf Streik gilt nicht absolut, sondern nur unter bestimmten Umständen, die das Gemeinwohl und die Existenz vieler Arbeitnehmer und Familien, die auf Busse und Bahnen angewiesen sind, nicht beeinträchtigen.
DOMRADIO.DE: Der BKU will bei Streiks unterscheiden, wie sehr dadurch andere Grundrechte oder empfindliche Infrastruktur eingeschränkt werden dürfen. Andererseits sollen ja Streiks gerade "wehtun". Wie sollte man hier moralisch oder sozialethisch abwägen?
Schallenberg: Sozialethisch ist das Gemeinwohl und zusätzlich das Wohl der je Schwächeren, also Familien mit Kindern, gerade auch Alleinerziehende, die auf den öffentlichen Transport angewiesen sind, im Blick. Daher halte ich die Einschränkung des Streikrechts in diesem Gebiet für unbedingt notwendig.
DOMRADIO.DE: Meines Erachtens sollte es auch im kirchlichen Arbeitsrecht ein Streikrecht geben. Privilegien für das kirchliche Arbeitsrecht halte ich, außer im Fall strikter Verkündigungstätigkeiten, für antiquiert. Aber auch hier gilt, etwa im Blick auf Kitas und Kindergärten und Schulen: Das Wohl der Familien und Kinder sollte unbedingt im Vordergrund stehen.
Kompromisse in Lohnverhandlungen sind heutzutage immer möglich, auch ohne Streik, anders als in grauen Vorzeiten des Manchesterkapitalismus. Aus jenen Zeiten nämlich stammt weitgehend das inzwischen höchst ärgerliche unbegrenzte Streikrecht ohne Streikgesetz.
Die Fragen stellte Jan Hendrik Stens.