DOMRADIO.DE: Was bedeutet Rechtfertigung im theologischen Sinn?
Prof. Dr. Volker Leppin (Professor für Kirchengeschichte an der Yale University, USA): Der Begriff "Rechtfertigung" hat mit Recht und Gericht zu tun – im Lateinischen "iustificatio". Es geht darum, ob ich im Jüngsten Gericht freigesprochen werde. Oder anders gefragt: Sagt Gott Ja zu meinem Leben? Wir wissen alle, dass wir nicht perfekt sind. Wie also kann Gott trotzdem Ja zu uns sagen?
DOMRADIO.DE: Luther fragte vor über 500 Jahren schon: "Wie finde ich einen gerechten Gott?“
Leppin: Genau das ist die Frage, die Luther aus seinem mittelalterlichen Orden übernahm. Ihm wurde diese Frage gemäß den Formularen gestellt, als er in seinen Orden eintrat.
DOMRADIO.DE: Diese Frage hat das Christentum in Europa vor 500 Jahren gespalten. Warum?
Leppin: Luther und die anderen Reformatoren hatten den nicht ganz unberechtigten Eindruck, dass es eine Frömmigkeitsbewegung gab, die betonte, dass der Mensch sich selbst erlösen könne. Luther widersprach: Angesichts unserer ständigen Fehltritte, meinte er, sei dies nicht das richtige Bild vom Menschen – und auch nicht das richtige Bild von Gott.
Luther griff dabei auf den Kirchenvater Augustinus und den Theologen Thomas von Aquin zurück, auch wenn er letzteren kritisierte. Die Rechtfertigung, sagte Luther, geschehe allein aus Gnade.
DOMRADIO.DE: Heißt das im Umkehrschluss, dass wir nichts tun müssen, um vor Gott gerecht zu sein?
Leppin: Wir müssen nichts tun, um gerecht zu sein vor Gott. Doch aus der Dankbarkeit darüber, dass Gott uns annimmt, obwohl wir das nicht verdienen, werden wir – so Luther – den Nächsten lieben, Gott lieben und Gutes tun. Dieses Gute sprudelt aus der Rechtfertigung und Dankbarkeit.
DOMRADIO.DE: Damals herrschte in der katholischen Kirche der Ablasshandel, der in dieser Form heute auch von der römisch-katholischen Kirche heute kritisch gesehen wird. Was kritisierte Luther damals daran?
Leppin: Der Ablass ist Teil des Bußsakraments und stellt die Frage, wie wir Wiedergutmachung leisten können. Nachdem wir freigesprochen wurden, weil man seine Sünden bekannt hat, gab es die Möglichkeit äußere Werke zu tun. Doch der Ablasshandel ermöglichte äußerlich zu bezahlen, ohne sich innerlich zu wandeln.
Luther sagte: Es geht nicht um äußere Taten, sondern darum, auf Gott ausgerichtet zu sein. In seinen Thesen gegen den Ablass fordert Luther, dass unser ganzes Leben Buße sei. Es muss also eine innere Wendung des Menschen hin zu Gott sein, die nur von Gott ausgehen kann.
DOMRADIO.DE: An dieser Frage zerbrach die Einheit der Kirche. Es kam zur Reformation und später auch zur Erneuerung in der katholischen Kirche. Wie fand man nach all den Jahrhunderten wieder zusammen und konnte 1999 ein gemeinsames Dokument unterzeichnen?
Leppin: Schon im 16. Jahrhundert gab es Annäherungen, etwa bei den Religionsgesprächen in Regensburg. Beide Seiten sahen, dass Werke Teil des christlichen Lebens sind, aber das Wesentliche aus Glauben und Gnade kommt. Dennoch verfestigten sich die Konfessionen.
Erst die ökumenische Bewegung des 20. Jahrhunderts nach Anfängen in der Zeit der Aufklärung und das Zweite Vatikanische Konzil, dass gewissermaßen ein Impuls war, brachten die Kirchen erneut zusammen. Es wurde darüber gesprochen, was die Kirchen im 16. Jahrhundert getrennt hatte, wie die Amtsfrage, das Verständnis des Abendmahls und die Frage der Rechtfertigung, die in den Gesprächen ins Zentrum gestellt wurde – eine zentrale Glaubenslehre der lutherischen Tradition, von der sie sagt: Mit ihr steht und fällt die Kirche.
DOMRADIO.DE: Das Dokument wurde heiß diskutiert. Unter anderem sorgte eine römische Note zur Erklärung für Zündstoff. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung diskutierte man über Leserbriefe. Die Unterzeichnung des Dokuments vor 25 Jahren löste auch Kritik aus. War die Gemeinsamkeit doch nicht so weit gediehen, wie es das Dokument vorgab?
Leppin: Die Gemeinsamkeit war so weit gediehen und das Dokument hervorragend. Doch einige – besonders auf lutherischer Seite – sorgten sich, zu viel aufzugeben, da die Rechtfertigungslehre als zentraler Artikel gilt. Der Artikel gilt als derjenige, mit dem die Kirche steht und fällt.
Der Hauptkritikpunkt war, dass es keine konkreten Folgen aus der Einigung gab. Aus der Sicht der wohlwollenden Evangelischen fiel dem Dokument die Glaubenskongregation in den Rücken. Sie äußerte Bedenken zur Frage des Verhältnisses von Sünde und Gerechtigkeit.
Der Gedanke, zugleich Sünder und Gerechter zu sein, wurde hinterfragt, was zu einer weiteren Überarbeitung des Textes führte. Diese Version ist diejenige, die schließlich am 31. Oktober 1999 in Augsburg unterzeichnet wurde.
DOMRADIO.DE: Was ist in den 25 Jahren seit der Unterzeichnung geschehen?
Leppin: Kurz nach der Unterzeichnung veröffentlichte der damalige Vorsitzende der Glaubenskongregation, Joseph Ratzinger, der spätere Papst Benedikt, das Schreiben "Dominus Jesus", das von evangelischen Kirchen so gelesen werden konnte und musste, dass sie nicht als Kirchen anerkannt würden. Das wurde von evangelischer Seite als Rückfall hinter den Stand der gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre empfunden.
Auch die Unterschriftenlisten auf evangelischer Seite führten zu einer Ablehnung weiterer ökumenischer Schritte. Diese Zeit wird oft als "ökumenische Eiszeit" beschrieben.
Es gab jedoch auch Fortschritte: Der Ökumenische Arbeitskreis entwarf ein Modell für das gemeinsame Abendmahl und viele deutsche Diözesen haben konfessionsverschiedenen Ehen das gemeinsame Abendmahl ermöglicht.
Die Ökumene entwickelt sich weiter und weltweit geschieht dies an manchen Orten schneller und offener als in Deutschland, wo die Reformation mit ihren Folgen – den zwei großen Kirchentümern – zu einer sehr starken Verfestigung geführt hat. Auch nach 25 Jahren kann man also noch feiern und optimistisch bleiben.
Das Interview führte Jan Hendrik Stens.