Zehn Tage waren vergangen, seit die im Vatikan versammelten Kardinäle am 13. März 2013 den argentinischen Kardinal Jorge Mario Bergoglio (damals 76) zum Papst gewählt hatten. Sein Vorgänger, seit drei Wochen der erste "Papa emeritus" der Kirchengeschichte, hatte das Konklave von seinem vorläufigen Rückzugsort aus beobachtet.
Leben in der barocken Sommerresidenz
Er lebte seit dem 28. Februar in der barocken Sommerresidenz der Päpste in Castelgandolfo außerhalb von Rom. In dem malerisch über dem Kratersee "Lago Albano" gelegenen Papstpalast und seinen ausgedehnten Gärten genoss Benedikt XVI. (damals 85) das Leben ohne die Last eines kirchlichen Amtes und begann, sich nach Jahren der körperlichen Überforderung bei Spaziergängen, Gebeten und Bücherlesen allmählich zu erholen.
Aus den Aufzeichnungen seines Privatsekretärs Georg Gänswein geht hervor, dass Zeitungslektüre und Fernsehsendungen die einzigen Kanäle waren, die den zurückgetretenen Papst mit der Papstwahl verbanden. Keine Telefonate, kein Strippenziehen mit alten Vertrauten, und erst recht keine öffentlichen Äußerungen. Benedikt war, wie er es bei seiner Rücktrittsankündigung gesagt hatte, seit dem 1. März vor den Augen der Welt verborgen. Die Scheinwerfer der Medien und die Augen von vielen Millionen Katholiken weltweit richteten sich allein auf den Nachfolger.
Besuch des neuen Papstes
Umso elektrisierter waren die noch immer zu Hunderten in Rom weilenden journalistischen Vatikan-Beobachter, als der Pressesprecher des Papstes, Pater Federico Lombardi, ankündigte, dass der neue Papst seinen Vorgänger besuchen werde.
Sofort schossen die Spekulationen ins Kraut: Würde der alte dem neuen Papst den Ring küssen? Würde dieser, anders als bisher, diesmal die Purpur-Stola als Zeichen der Unterscheidung tragen? Würden Sie einander mit "Heiliger Vater" anreden? Und würde der zurückgetretene Papst etwa Neues, noch nicht Gesagtes zu seinem Rücktritt erklären, mit dessen Ankündigung er die Welt in Staunen versetzt hatte?
Keine Live-Übertragung
Groß war die Enttäuschung, als keine Live-Übertragung, sondern nur Video- und Foto-Aufzeichnungen angekündigt wurden. Die kurze Zusammenstellung der bewegten Bilder ist bis heute im Netz zu sehen. Sie zeigen die herzliche Begegnung eines alten Mannes mit seinem etwas jüngeren Vorgänger. Kein Ringkuss, kein wechselseitiges "Heiliger Vater", keine Stola. Stattdessen langes herzliches Umarmen und Händehalten, ein von wiederholtem Kamera-Klacken gestörtes einträchtiges Gebet auf der Kniebank der Hauskapelle, das Überreichen eines Geschenks und schließlich noch knapp fünf Sekunden lang eine Gesprächs-Situation in der Privatbibliothek.
Ausgerechnet diese fünf Sekunden sorgten dann für neuen Gesprächsstoff: Denn zwischen Franziskus, der auf einem Sofa sitzt, und seinem Vorgänger (im Sessel) steht ein weißer Karton, der offenbar Akten enthält, darauf liegt ein prall gefüllter, großer weißer Briefumschlag. Über den Inhalt des Kartons und des Umschlags wurde seither viel spekuliert, und erst seit der Veröffentlichung von Gänsweins Aufzeichnungen gibt es Klarheit über den Inhalt.
Es war kein Dossier über homosexuelle Seilschaften im Vatikan, sondern lediglich der Bericht einer Kommission von drei pensionierten Kurienkardinälen, mit den dazugehörigen Tonkassetten und Gesprächsprotokollen. Die Kommission hatte Benedikt XVI. damit beauftragt, die Hintergründe des sogenannten Vatileaks-Skandals herauszufinden.
Vertrauliche Dokumente
Von 2011 bis 2012 hatte der päpstliche Kammerdiener Paolo Gabriele vertrauliche Dokumente von Gänsweins Schreibtisch entwendet und ihren Inhalt zwei italienischen Journalisten zukommen lassen. Die Kardinäle sollten herausfinden, wie es zu diesem Geheimnisverrat kommen konnte; die Ergebnisse ihrer Gespräche und ihre Schlussfolgerungen befanden sich in dem Karton. In dem Briefumschlag hatte der scheidende Papst dann auch noch seine eigene Sicht des gesamten Vorgangs zusammengestellt.
Ob der Karton heute im Vatikanarchiv in einem Regal steht, ist nicht bekannt. Tatsache ist, dass sich die beiden Herren in Weiß nach der Übergabe mit den beiden Privatsekretären Alfred Xuereb und Georg Gänswein zum Mittagessen an einen Tisch setzten und, wie Gänswein später berichtete, über "Themen eher allgemeiner Natur" sprachen.
Der letzte Umzug
Am Nachmittag flog der amtierende Papst dann wieder zurück in den Vatikan, sein Vorgänger verbrachte noch ein halbes Jahr in der Sommerresidenz. Als er dann zum letzten Mal in seinem Leben umzog - diesmal ins ehemalige Kloster Mater ecclesiae in den vatikanischen Gärten - erwartete ihn vor der Tür seines neuen Zuhauses kein anderer als Papst Franziskus und hieß ihn herzlich willkommen.
Laut Gänswein war diese zweite Begegnung dem inzwischen gesundheitlich wieder deutlich erholten Emeritus ähnlich wichtig wie die erste, Medien und Öffentlichkeit nahmen jedoch davon kaum noch Notiz. Das friedliche Nebeneinander eines amtierenden und eines emeritierten Papstes war inzwischen fast schon zur neuen Normalität geworden.