Bertelsmann-Stiftung fordert Grundsicherung für Kinder

"Wir brauchen einen Systemwechsel"

Jedes fünfte Kind lebt in Deutschland in Armut. Die Corona-Krise wird das nicht besser machen. Die Bertelsmann-Stiftung beklagt in einer neuen Studie, dass sich an der Kinderarmut im Land seit Jahren nichts ändert - und fordert Konsequenzen.

Kinderarmut / © Christian Hager (dpa)
Kinderarmut / © Christian Hager ( dpa )

DOMRADIO.DE: Immer, wenn solche Zahlen veröffentlicht werden, dann geht ein Raunen durchs Land. Das kann doch nicht sein in einem eigentlich so reichen Land wie unserem. Was wäre am dringendsten geboten, um gegenzusteuern?

Anette Stein (Bertelsmann-Stiftung): Wir müssen tatsächlich einen Systemwechsel einleiten. Es ist ja viel passiert in den letzten Jahren auf politischer Ebene. Aber trotzdem muss man jetzt zur Kenntnis nehmen, dass es eigentlich nicht wirklich viel verändert hat. Das heißt, wir brauchen wirklich neue Wege in der Sozial- und Familienpolitik. Wir brauchen so eine Art Grundsicherung für jedes Kind.

Die Bertelsmann-Stiftung schlägt das zum Beispiel in Form eines Teilhabe-Geldes vor. Es gibt ähnliche Konzepte, die auf dem Tisch liegen. Hier ist jetzt wirklich zu handeln und anzusetzen. Kinder gehören nicht ins SGB II-System. Sie können sich selber aus Armut nicht befreien. Also müssen wir dafür sorgen, dass jedes Kind genug bekommt, um auch gut aufwachsen zu können.

DOMRADIO.DE: Was hat sich im Vergleich zu den Vorjahren bei den Zahlen zur Kinderarmut getan?

Stein: Es hat sich ziemlich wenig in den letzten fünf Jahren getan. Im Westen ist die Zahl der Kinder, die in Grundsicherung oder in Armut leben, sogar leicht gestiegen von 12,9 auf 13,1 Prozent. In den ostdeutschen Bundesländern ist die Zahl durchaus auch gesunken von 22 auf ungefähr 17 Prozent. Aber 17 Prozent sind natürlich immer noch ziemlich viele. Das heißt, eigentlich gibt es keine grundlegende Verbesserung. Obwohl es uns eigentlich in den letzten Jahren wirtschaftlich in Deutschland gut gegangen ist.

DOMRADIO.DE: Was steckt hinter den Zahlen? Aus welchen Verhältnissen kommen die betroffenen Kinder?

Stein: Ganz besonders betroffen sind alleinerziehende Familien und Familien mit drei oder mehr Kindern. Generell sind es oft auch Familien, die in der Grundsicherung sind, aber auch nicht nur. Die, die ohnehin schon von wenig leben müssen, da sind die Kinder besonders betroffen. Es betrifft vor allen Dingen auch ihre materielle Unterversorgung in den Bereichen Freizeit, aber vor allen Dingen auch soziale Teilhabe und Mobilität. Da sind arme Kinder besonders unterversorgt.

DOMRADIO.DE: Das heißt, die sind einfach vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen?

Stein: Ganz genau, das betrifft eben jedes fünfte Kind in Deutschland.

DOMRADIO.DE: Sie haben die Grundsicherung erwähnt. Welche Rolle spielt die?

Stein: Die Grundsicherung orientiert sich an den unteren 20 Prozent unserer Bevölkerung. Das ist für Kinder aber tatsächlich ja keine Ausgangslage, um gut aufwachsen zu können. Das zeigt sich in den Untersuchungen, dass es eben gerade in den Familien, die von Grundsicherung leben, häufig an vielen Dingen fehlt, was soziale Teilhabe, Mobilität oder Freizeit angeht. Hier sind Kinder, die dort aufwachsen, im Vergleich zu denen, die in einkommensgesicherten Familien aufwachsen, deutlich benachteiligt. Beispielsweise auch beim Homeschooling hat sich das sehr deutlich gezeigt.

DOMRADIO.DE: Da sprechen Sie jetzt schon die Corona-Pandemie an. Wie wirkt sich die speziell auf die Situation dieser armen Kinder aus?

Stein: Es gibt noch keine aktuellen Zahlen für die Kinderarmut. Es ist absehbar, dass sich die Situation deutlich verschärfen wird. Unsere Studie zeigt, dass in jeder vierten Familie, die in Grundsicherung lebt, kein internetfähiger Computer vorhanden ist. Mehr als die Hälfte dieser Kinder lebt in einer Wohnung, in der es zu wenig Zimmer für ungestörtes Lernen gibt. Das heißt, arme Kinder sind im Homeschooling wirklich noch mal besonders benachteiligt.

Zudem trifft die Krise aber auch gerade alleinerziehende Eltern, meist Mütter, besonders hart. Denn gerade die Minijobs und die geringfügig Beschäftigten, bzw. auch zum Teil prekären Beschäftigungsverhältnisse, haben in den letzten Monaten massiv abgenommen. Wir haben mehr als eine halbe Million im Bereich Minijobs verloren. Das trifft vor allen Dingen auch wieder gerade die alleinerziehenden Haushalte und die Mütter.

Das Interview führte Hilde Regeniter.


Quelle:
DR
Mehr zum Thema