Jerusalemer Alt-Abt feiert 100. Geburtstag

"Er ist noch gar nicht fertig"

Auf 100 Jahre Leben und knapp acht Jahrzehnte als Mönch blickt Nikolaus Egender seit Samstag zurück. Der Jerusalemer Ehrenbürger sei auch heute noch voller Energie und Neugier, erzählt sein Nach-Nach-Nach-Nachfolger Nikodemus Schnabel.

Nikolaus Egender OSB / © Schnabel (privat)
Nikolaus Egender OSB / © Schnabel ( privat )

DOMRADIO.DE: Wie geht es Abt Nikolaus denn mit 100 Jahren?

 © Schnabel (privat)

Abt Nikodemus Schnabel OSB (Abt der Dormitio-Abtei in Jerusalem): Mit 100 ist klar, nicht mehr ganz fit, aber er ist ein unglaubliches Energiebündel. Was schwierig ist: Er hört gar nichts mehr. Zwei Stunden haben wir uns unter vier Augen unterhalten. Unterhalten heißt, ich habe einen ganzen Block vollgeschrieben. Man muss ihm einfach schriftlich seine Gesprächsanteile rüber reichen. Die entziffert er und dann antwortet er - aber durchaus sehr humorvoll, sehr wach und fit.

Das hat mich auch tief beeindruckt. Er ist immer noch eine Leseratte, schreibt sogar immer noch. Momentan arbeitet er sich durch die neu entdeckten Predigten von Origenes durch, die in der Staatsbibliothek München entdeckt wurden. Beim Sehen braucht er gutes Licht und eine Lupe. Also da sind schon Einschränkungen spürbar, aber er ist wirklich hellwach.

Nikodemus Schnabel über Nikolaus Egender

"Er ist bis heute auch ein Grenzgänger."

DOMRADIO.DE: Man liest und hört ja öfters mal von Ordensleuten, die so ein hohes Alter erreichen. Hält denn das Ordensleben besonders jung?

Abt Nikodemus: Da gibt es tatsächlich eine Untersuchung aus den USA, wo man festgestellt hat, dass es wirklich auffällig ist, gerade bei Männern noch mal stärker, dass die männlichen Ordensleute im Durchschnitt zehn Jahre älter wären als Männer außerhalb des Klosters. Bei Frauen ist da auch ein Unterschied, aber nicht so signifikant. Da wurde lange auch gerätselt, woran das liegt.

Ich erinnere mich, dass da die Antwort war, dass die Sinnfrage gefunden wurde. Natürlich sicher auch dieser rhythmisierte Lebensstil. Klar muss ich auch sagen, wir Mönche machen jetzt nicht übermäßig viel Sport, es gibt auch im Kloster Raucher oder Übergewichtige. Das heißt, diese Faktoren gibt es auch im Kloster, die nicht unbedingt gesund sind.

Aber das Leben der Gottsuche scheint lebensverlängernd zu sein. Das habe ich auch bei Nikolaus erlebt. Wie gesagt, der ist 100, aber der ist noch voller Energie. Man hat das Gefühl, der ist noch gar nicht fertig. Da ist noch eine ganz sprudelnde Neugier da, und ich glaube, er weiß einfach, warum er hier ist und warum er lebt und wirkt da auch sehr glücklich.

DOMRADIO.DE: Schauen wir mal auf seine Zeit in Jerusalem. 1979 bis 1995 war er Abt der Dormitio. Das war ja noch lange bevor Sie dort ins Kloster eingetreten sind. Welche Rolle spielt er denn für die Gemeinschaft?

Abt Nikodemus: Wenn man 16 Jahre Abt war, hinterlässt man Spuren. Und ich muss sagen, auch von all meinen Vorgängern steht er mir inhaltlich am nächsten. Wie ich liebt er die Liturgie, interessiert sich auch wissenschaftlich dafür. Er liebt die Ostkirchen. Sein Kloster Chevetogne, wo er wieder jetzt lebt, sein Professkloster, hat diese beiden Lungenflügel. Das Kloster in der Mitte, was umrahmt wird von zwei Kirchen, die lateinische Kirche, wo im römischen Ritus gefeiert wird und die byzantinische Kirche im byzantinischen Ritus.

Er ist bis heute auch ein Grenzgänger, der fühlt sich in beiden Riten zu Hause. So wie er sich auch in zwei Sprachen zu Hause fühlt. Er ist gebürtiger Elsässer und berichtet das immer, als Kind durfte er einmal nicht Deutsch reden und einmal nicht Französisch.

Das ist etwas, was ihn auch auszeichnet, was er auch in seiner Zeit in der Dormitio prägend hinterlassen hat. Dank ihm sind wir ein Kloster im Dialog. Ein Kloster, was eben sowohl die Hand ausstreckt zum hebräisch sprechenden Teil wie zum arabisch sprechenden Teil, zu den Israelis wie zu den Palästinensern, zu den Evangelischen wie zu den Ostkirchen. Dafür steht er schon sehr stark.

Er war ein Abt, der sehr stark für diese Öffnung im Dialog war. Und da muss ich sagen, ist er mir auch ein Vorbild. Da schaue ich wirklich hoch und nehme jeden Rat von ihm an. Ich schätze ihn einfach sehr.

DOMRADIO.DE: Und für diese Dialogarbeit wurde er auch ausgezeichnet als Ehrenbürger von Jerusalem. Dabei war ja die Zeit, wo er in der Dormitio gewesen ist, durchaus eine bewegte Zeit. Die erste Intifada 1987 bis 1993, der Friedensprozess von Oslo. Haben Sie mit ihm über diese bewegten Zeiten in Jerusalem mal gesprochen?

Abt Nikodemus: Ja, absolut, auch jetzt wieder. Er hat dann auch schon gesagt: Du hast es heute schwieriger als ich damals. In den 1990er Jahren gab es wirklich mehr Hoffnung. Nach Oslo war wirklich eine Stimmung: Der Frieden könnte gewinnen. Das Friedenslager hat Oberhand. Frieden, Versöhnung ist möglich. Israelis und Palästinenser können eine gemeinsame Zukunft erträumen. Es war schon eine Aufbruchstimmung. Natürlich war dann auch die Ermordung Rabins der erste ganz große Dämpfer. Aber man hat dann da noch nicht sehen können, dass da so viel an Hoffnung auch stirbt.

Nikodemus Schnabel über Nikolaus Egender

"Kein Tag vergeht, wo er nicht für Jerusalem betet."

Er guckt schon mit einem schmerzhaften, blutenden Herzen auf Jerusalem. Das bewegt ihn schon. Und er sagt kein Tag vergeht, wo er nicht für Jerusalem betet.

DOMRADIO.DE: Dabei ist er der erste Abt gewesen, der auch von den Mönchen selbst gewählt wurde. Welche Rolle spielt das denn für die Gemeinschaft?

Abt Nikodemus: Genau. Er war wirklich der erste Abt, der nicht entsandt wurde. Die Dormitio hat eine ganz bewegende Geschichte bis heute. Ein Kloster zwischen allen Stühlen verschiedenster Spieler, vor allem politisch. 1979 durfte die Gemeinschaft erstmals einen Abt wählen, der nicht entsandt oder bestimmt wurde und nicht als Administrator erst kam. Das ist schon noch ein Zeichen.

Das war auch eine Überraschung, die Wahl damals. Er steht wirklich für das, wofür die Dormitio steht. Man hat eben einen Elsässer gewählt. Einen gewählt, der groß geworden ist in seiner Kindheit zwischen den Stühlen, zwischen dem deutsch-französischsprachigen Europa, der auch wirklich zwei Muttersprachen hat, die er beide liebt. Auch zwei Kulturen, mit denen er groß geworden ist, eingetreten in ein belgisches Kloster, das sich ganz stark dem Dialog von West- und Ostkirche verschrieben hat.

Mit diesem Geist, mit dieser Offenheit zum ganz weiten Horizont, dieser Lust auf Dialog, Lust auf Brückenbauen, Lust auf neugierig sein, das versteht er einfach. Das war diese Zeit, die er geprägt hat. Und das wollten die Mönche damals. Jemanden, der genau für diese Weite steht. Und sie haben ihn ja wiedergewählt. Er hat zwei Amtszeiten, also 16 Jahre abgeleistet. Also das zeigt auch, er hat das Kloster geprägt und ich kann einfach nur sagen, ich bin dankbar, so einen großartigen Vorgänger zu haben.

DOMRADIO.DE: 100 Jahre Leben, knapp acht Jahrzehnte davon Mönch sein, das ist ja in heutigen Zeiten fast unvorstellbar, so lange im Leben sich auf eine Sache zu konzentrieren. Was geht einem da eigentlich so als Mönch selbst durch den Kopf?

Abt Nikodemus: Es macht Hoffnung. Ich habe da jemanden getroffen, der alles andere als verbittert ist. Der einfach auf ein glückliches Leben schaut, der auch wirklich mit strahlenden Augen berichtet. Er war ja auch Prior in Chevetogne, hatte da Leitungsverantwortung, war dann Abt in Jerusalem und hat sich danach gar nicht zur Ruhe gesetzt, im stolzen Alter. Er hat dann noch die Reichenau wieder begründet. Er sagt auch er trägt drei Klöster in seinem Herzen: Chevetogne als erste Liebe, Jerusalem als die zweite und die Reichenau als dritte.

Was ich am faszinierendsten fand: Ich finde, es gibt sehr viele Menschen leider, die eine Verbitterung haben, die untröstlich auf ihr Leben zurückschauen. Und er, der wirklich keine einfache Biografie hatte, erlebt mit Freude den 100. Geburtstag. Er hat den ganzen Zweiten Weltkrieg mitbekommen. Beim Kloster Chevetogne gehört er ja fast noch zur Gründergeneration: Es ist übrigens jünger als er selbst, muss man sich auch noch mal vor Augen führen. Er hatte schon auch ein Leben, was wirklich nicht immer nur einfach gewesen ist! Aber das dominiert nicht seine Lebenshaltung. Er schaut da ganz versöhnt und wirklich glücklich zurück. Das hat mich schon tief beeindruckt.

Mönch sein scheint offensichtlich ein Lebensentwurf zu sein, wo man mit 100 Jahren mit einem Lächeln dasitzen kann und auch frei von Todesangst in die Zukunft schaut. Das hat mich sehr getröstet und auch berührt.

Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.

Nikolaus Egender OSB

Nikolaus Egender, ehemaliger Abt der deutschsprachigen Benediktinerabtei Dormitio in Jerusalem, wurde am 23. August 1923 geboren. Der gebürtige Elsässer stand der deutschen Benediktinerabtei Dormitio auf dem Zionsberg nahe der Jerusalemer Altstadt von 1979 bis 1995 als Abt vor. Seit 1997 lebt er wieder in der belgischen Abtei Chevetogne, in der er sein Benediktinerleben begann. Von 1963 bis 1971 war Egender Prior in dem ökumenisch engagierten Ardennenkloster.

Prior Nikolaus Egender OSB (Archiv) / © KNA-Bild (KNA)
Prior Nikolaus Egender OSB (Archiv) / © KNA-Bild ( KNA )
Quelle:
DR