Wuppertaler Citykirchen-Arbeit nach 20 Jahren noch aktuell

Konzept weiter wegweisend

Pastoralreferent Werner Kleine hat die katholische Citykirche Wuppertal 2004 initiiert. Seitdem trägt er mit seinem Team die Kirche auf die Straße. Die Gemeinde ist in ständigem Fluss und bietet Menschen auch lebenspraktische Hilfe.

Autor/in:
Hilde Regeniter
Pastoralreferent Werner Kleine bei der Segnung von Motorrädern (Citykirche Wuppertal )

DOMRADIO.DE: Citykirchen gibt es heute in vielen deutschen Städten. 2004 waren sie noch etwas ganz Neues. Was ist das Prinzip Citykirche?

Pastoralreferent Dr. Werner Kleine / © Christoph Schönbach (Citykirche Wuppertal )

Dr. Werner Kleine (Pastoralreferent der Citykirche Wuppertal): Citypastoral verfolgt die Idee, Menschen zu erreichen, die nicht sonntags von selbst in die Kirche kommen. Das habe ich schon damals in unserem Konzept so analysiert. Damals, also vor 20 Jahren, standen noch rund 20 Prozent der Leute in irgendeiner Weise in Kontakt mit der katholischen Kirchengemeinde. Heute sind es noch viel weniger. Die 80 verbleibenden Prozent habe ich damals "die Gemeindefernen" genannt.

In einer Stadt wie Wuppertal hatten wir damals schon 40 Prozent Personen, die keiner der kirchlichen Großorganisationen mehr angehörten; sie habe ich "die Kirchenfernen" genannt. Sie sind die Zielgruppe der Citypastoral.

Und während viele Citypastoral-Projekte zum Beispiel Cafés organisierten, einen Buchladen oder etwas Ähnliches, haben wir hier in Wuppertal von Anfang an einen besonderen Ansatz verfolgt. Wir wollten nichts neu schaffen, zu dem die Menschen wieder hingehen müssten. Wir haben uns lieber mitten in die Stadt gestellt, auf die Straßen und Plätze von Wuppertal.

Wir sind da, wo die Menschen sind. Wir gehen zu den Menschen hin. Das tun wir jetzt seit 20 Jahren. 

Ein Gottesdienst im Eiscafé  / © Christoph Schönbach (Citykirche Wuppertal )

DOMRADIO.DE: Was unterscheidet eine Citykirchengemeinde von einer herkömmlichen Pfarrgemeinde? 

Kleine: Eine herkömmliche Gemeinde ist eng umrissen, schon allein territorial, also geografisch gesehen. Außerdem hat sie hat einen mehr oder weniger festen Personenstand, der auf dauerhafte Beziehung angelegt ist. In der Citykirche, in der Citykirchenarbeit geht es eher um fluide Beziehungen.

Wir haben Begegnungen, die manchmal in längere Prozesse münden, manchmal aber eben auch nicht. Ich sage immer: "Unsere Gemeinden kommen und gehen so, wie die Begegnungen gerade stattfinden." Das ist ein komplett anderer Ansatz. 

DOMRADIO.DE: Womit haben Sie denn 2004 ganz konkret angefangen? Was waren die ersten Schritte? 

Kleine: Das erste war, überhaupt auf die Straße zu gehen, auszuprobieren, was das bedeutet, wenn wir uns dort exponieren. Die allererste Woche nach dem 11. September 2004 war davon geprägt, dass wir jeden Tag auf der Straße waren, damals auch mit ganz konkreten Projekten, damit wir einen entsprechenden Anlass hatten.

Heute stellen wir uns alle zwei Wochen auf der Straße; die Leute kennen uns mittlerweile. Eine unserer ersten größeren öffentlichen Aktionen war die Tiersegnung, die wir drei Wochen nach unserer Gründung auf dem Laurentiusplatz gefeiert haben. Wir waren selbst überrascht, wie viele gekommen sind und das Angebot angenommen haben. Seitdem findet die Tiersegnung jedes Jahr am 4. Oktober statt. 

DOMRADIO: Schon vor 20 Jahren hatte die katholische Kirche deutlich an gesellschaftlichem Einfluss und Gläubigen verloren. Dieser Exodus hat sich längst dramatisch beschleunigt und verstärkt. Was spüren Sie davon heute in Ihrem Citykirchen-Alltag?

Werner Kleine

"Viele wissen auch nicht, wer aktuell Papst ist."

Kleine: Er ist natürlich Thema auf der Straße. Wir sind ja unmittelbar mit den Menschen in Kontakt. Wir stehen dezidiert als Vertreter der katholischen Kirche draußen und hatten auch vor 20 Jahren schon intensive Diskussionen. Da ging es aber mehr um inhaltliche Fragen. Dann wurde um 2010 herum der erste Missbrauchsskandal öffentlich und es gab den Ärger um den damaligen Limburger Bischof Tebartz van Elst. Darauf haben uns die Leute angesprochen; das waren sicher keine vergnügungssteuerpflichtige Zeiten. Danach ebbte die Aufregung erst einmal wieder ab.

Die Citykirche feiert Gottesdienste an ungewöhnlichen Orten / © Christoph Schönbach (Citykirche Wuppertal )
Die Citykirche feiert Gottesdienste an ungewöhnlichen Orten / © Christoph Schönbach ( Citykirche Wuppertal )

Heute nehmen wir eher eine große Indifferenz bei den Menschen wahr. Die Zahl der Kirchenaustritte wird in den Medien ja oft persönlich verortet, dass also bestimmte kirchliche Persönlichkeiten für diese massenhaften Austritte verantwortlich sind. Das kann ich von der Situation auf der Straße her nicht bestätigen. Dort gibt es eher eine große Gleichgültigkeit. Wenn wir zum Beispiel fragen, wer der Erzbischof von Köln ist, wissen die Menschen das nicht. Der Name Woelki sagt vielen Menschen auf der Straße nichts. Viele wissen auch nicht, wer aktuell Papst ist.

Corona hat diese Indifferenz noch einmal beschleunigt, weil wir als Kirche nicht mehr wirklich in Kontakt mit den Menschen waren. Jetzt sind wir ihnen schlicht und ergreifend egal. Wenn ich da nicht auf der Straße stehen würde, wenn wir nicht versuchen würden, immer wieder Öffentlichkeit zu erzeugen, wären wir im Bewusstsein der Menschen wohl noch viel weiter hinten. 

DOMRADIO.DE: Wie versuchen Sie der Gleichgültigkeit zu begegnen, sie vielleicht auch aufzufangen? 

Kleine: Einer unserer Leitsätze war von Anfang an: "Wer als kompetent bekannt ist, wird auch gefragt werden". Wer mir eine Frage stellt, bekommt eine Antwort. Ich bin kein wandelndes Telefonbuch, ich kann nicht jede Frage auf der Straße beantworten. Aber die Menschen bekommen von mir die Zusage, dass ich zeitnah, in der Regel innerhalb von 48 Stunden, eine Antwort liefere. Dann müssen wir telefonieren oder uns noch einmal treffen.

Die Fragen der Menschen sind sehr konkret, teilweise sind es auch religiöse Fragen. Eine der meist gestellten Fragen auf der Straße ist tatsächlich: "Wieso glaubst du daran, dass Jesus Christus der Sohn Gottes ist?" Vor allem Muslime stellen sie und wir müssen uns mit ihr auseinandersetzen. Wir dürfen nicht rumeiern, sondern müssen sehr klar darauf antworten.

Wir sind hier in Wuppertal als katholische Citykirche mittlerweile sehr bekannt und so kommen die Leute auch mit lebenspraktischen Fragen zu uns. Das kann die Suche nach einem Arbeitsplatz oder einer Wohnung sein. Oder sie können die Stromrechnung nicht bezahlen. Dann brauchen die Menschen konkret Hilfe und Antwort; und dafür stehen wir. Weil die Menschen das wissen, kommen die Kontakt zustande.

Und dann sind wir plötzlich auch bei anderen Fragen relevant. Zum Beispiel wenn eine Ehe kaputtgeht, können die Menschen auch kommen und wissen, dass sie bei uns gut aufgehoben sind. Denn wir sind mittlerweile sehr gut vernetzt, sowohl mit den gesellschaftlichen Institutionen der Stadt Wuppertal als auch innerkirchlich. Wir sind keine Wundertäter; manchmal klappt es auch nicht. Aber bis jetzt haben wir fast jedem zeitnah helfen können. 

DOMRADIO.DE: Sind Citykirchen so etwas wie die Kirchen der Zukunft? 

Werner Kleine

"Wenn wir als Kirche in die Zukunft gehen wollen, müssen wir viel mehr nach draußen gehen."

Kleine: Ich glaube schon, dass die Citykirchenarbeit wegweisend ist. Wir merken ja, dass Gemeindearbeit immer weiter zurückgeht. Der Gottesdienstbesuch hier in Wuppertal liegt mittlerweile noch bei etwa bei fünf Prozent; vor 20 Jahren war er noch mindestens doppelt so hoch.

Ich glaube, wir müssen uns als Kirchen komplett neu aufstellen. Bei uns im Bistum sind wir auf dem pastoralen Zukunftsweg bereits mehrere Etappen gegangen. Jetzt werden die pastoralen Einheiten gegründet; dabei wird viel darum gerungen, dass die Gemeinden am liebsten so bleiben wollen, wie sie sind.

Ich bin ehrlich gesagt skeptisch, ob das der Weg der Zukunft ist, weil die Gemeinden sich nicht wirklich nach außen öffnen. Das gehört ja gerade auch zum Prinzip der Gemeinde. Das will ich auch gar nicht geringschätzen. Aber wenn wir als Kirche in die Zukunft gehen wollen, müssen wir viel mehr nach draußen gehen. Und da ist das Konzept Gemeinde meines Erachtens im Moment nicht das, worauf wir allzu sehr setzen sollten. 

DOMRADIO.DE: Sicher erinnern Sie sich an viele besondere Momente aus 20 Jahren Citykirchenarbeit. Schildern Sie uns einen? 

Kleine: Ich habe viele schöne Geschichten erlebt. Eine ist vor einigen Jahren passiert. Wir machen immer am letzten Freitag im April Motorradsegnungen und bei einer war der Inhaber eines hier im Bergischen Land sehr bekannten Motorradtreffs dabei. Er kam zu mir und fragte, ob ich eine solche Segnung nicht bei den Biker Days im Cafe Hubraum machen könnte, zwischen Wuppertal und Solingen an der Wupper gelegen. Insgesamt sollten da 1.500 Leute kommen.

Ich bin hingefahren, hinter vier, fünf Motorrädern her, offenkundig von einer Motorrad-Gruppe, denn sie hatten hinten auf ihrer Jacke stehen: "The Living Dead", das ist eine Supporter-Gruppe der Hells Angels. Ich komme an, da steht ein Carport als Bühne und davor haben sich die "Living Dead" positioniert. Ich gehe im Gewand zum DJ, der kündigt mich schon an: "Pastor Werner kommt gleich". Dass ich Pastoralreferent bin und nicht Pastor, lernen viele einfach nicht. Für die bin ich eben Pastor Werner. 

Ich habe dem DJ gesagt: "Wenn es gleich um 12 losgeht, machst du die Nebelmaschine an, um drei Minuten vor zwölf spielst du von The Hooters "All you Zombies", ein Hardrock-Stück mit religiösem Text; Mose kommt drin vor, das goldene Kalb usw. Dann komme ich aus dem Nebel heraus – wie ein dicker weißer Engel." Genauso machen wir es: Ich komm raus durch die Wolke, "The Living Dead" stehen vorne und ich sage: "Meine lieben Freunde, ich begrüße euch hier. Ganz besonders begrüße ich meine Freunde von den "Living Dead". Jungs, ihr seid klasse. An so einen lebenden Toten glaube ich nämlich auch: An Jesus Christus, der von den Toten auferstanden ist. Klasse, dass ihr meine Botschaft auf die Straße bringt. Im Namen des Vaters, des Sohnes des Heiligen Geistes." Gottesdienst angefangen!

Zum Schluss sage ich wie immer: "Jetzt komme ich zu euch. Wer seine Maschine und sich selbst segnen lassen will, der melde sich bitte bei mir. Ich bin der einzige Weiße hier auf dem Platz. Ihr seid alle schwarz. Ihr erkennt mich."  Als erstes bin ich zu dem von "The Living Dead" gegangen. "Na, Freund, bisschen Weihwasser auf die Maschine?" Und er antwortet: "Hau bloß ab!" An dem Tag habe ich sie besiegt.

Manchmal treffe ich sie noch beim Edeka hier um die Ecke. Wir grüßen uns immer noch freundlich. Das sind so Geschichten, die nur auf der Straße passieren. 

DOMRADIO.DE: Was wünschen Sie sich für die Zukunft? Vielleicht nicht gleich für die nächsten 20 Jahre.

Werner Kleine

"Wir kreisen viel zu sehr um uns selbst."

Kleine: Wenn ich die nächsten 20 Jahre überlebe, bin ich schon lange in Rente. Vielleicht bin ich dann auch gar nicht mehr da. Dann würde ich mit dem lieben Gott über citypastorale Strategien streiten.

Für die nächste Zukunft wünsche ich mir, dass wir als Kirche wieder selbstbewusster werden. Wir kreisen viel zu sehr um uns selbst. Die Fragen, die in der Kirche ganz heiß diskutiert werden, die alles andere als unwichtig sind, sind auf der Straße nicht wichtig. Wir erreichen die Menschen damit nicht mehr. Wir müssen nach draußen gehen.

Ein weiterer unserer Leitsätze lautet: "Die Effizienz der Verschwendung", das kommt vom Sämanns-Gleichnis. Dieser Sämann haut ja das Saatgut regelrecht raus und vieles geht verloren, damit er reiche Frucht bekommt. Wir haben im Moment in den Bistümern, auch in unserem Bistum, immer wieder Effizienzstrategien, wo man Input, Output und Impact überprüft. Ich kann nach 20 Jahren Citykirchenpastoral nur sagen: "Wir müssen schon ein bisschen verschwenderisch sein".

Das ist antizyklisch. Wir können jetzt nicht am falschen Ende sparen, wenn wir die Menschen erreichen wollen. Wir brauchen die Effizienz der Verschwendung, wie es das Gleichnis sagt. Wer investiert und manches verliert, wird vieles gewinnen. Und das im Übermaß.

Das Interview führte Hilde Regeniter.

Katholische Citykirche Wuppertal

Die Katholische Citykirche Wuppertal richtet sich von ihrem Selbstverständnis primär an Kirchen- und Gemeindeferne. Ihr Ziel ist es, "im Vorübergehen" Begegnungsmomente und niederschwellige, aber qualitätsvolle Kontakte zu ermöglichen. Sie reagiert flexibel auf aktuelle Ereignisse, wobei sie profiliert aus Sicht der katholischen Kirche Stellung bezieht.

Neben Angeboten, mit denen die Katholische Citykirche Wuppertal flexibel auf tagesaktuelle Ereignisse reagiert, bietet sie eine Reihe von Projekten an, die regelmäßig stattfinden. (Quelle: Katholische Citykirche Wuppertal)

Wuppertal / © Ilia Platonov (shutterstock)
Quelle:
DR