DOMRADIO.DE: Seit nunmehr zehn Jahren unterstützt das Netzwerk Geflüchtete bei der sprachlichen, schulischen und beruflichen Integration. Was bleibt Ihnen besonders in Erinnerung, wenn Sie zurückblicken?
Dr. Frank Johannes Hensel (Direktor des Diözesan-Caritasverbands für das Erzbistum Köln e. V.): Da gibt es natürlich viele prägende und bereichernde Erlebnisse mit Menschen, die sich durchkämpfen, die diesen oft schweren Weg in eine neue Heimat gehen. Ein Mann etwa schrieb ein Buch, das sogar von Kanzlerin Angela Merkel gelesen wurde. Andere, die selbst schon einige Jahre hier sind, begleiten als Paten wiederum andere Geflüchtete.
Auch Ukrainerinnen und Ukrainer, die zunächst nur für kurze Zeit hier bleiben wollten, aber erkannt haben, dass es länger wird, haben ein Theaterstück geschrieben. Dieses wurde sehr bewegend in Solingen aufgeführt und spiegelte ihre Erlebnisse wider – auch das Gefühl, sich während der Bombenangriffe in den Keller zu flüchten. Solche Momente berühren sehr.
Auch andere Erlebnisse bleiben in Erinnerung, wie Einkehrtage für Engagierte oder das Flüchtlingsboot, das an Fronleichnam auf dem Roncalliplatz vor dem Dom stand.
Der Kardinal zelebrierte dort die Messe und sagte, dass Jesus in diesem Boot sitze. Gemeinsam zogen wir damit durch die Kirchen. Ich habe dort ebenfalls Ansprachen gehalten. Diese Momente waren für mich bewegend und bereichernd.
DOMRADIO.DE: In den Jahren 2014/15 gab es viele Initiativen, als Menschen aus Syrien und Afghanistan kamen. Was zeichnet die "Aktion Neue Nachbarn" im Erzbistum Köln aus?
Hensel: Eine klare Struktur mit einfachen Abläufen. Wir arbeiten in einem Tandem-Modell mit einem Koordinator und einem Flüchtlingsbeauftragten im Generalvikariat und im Diözesan-Caritasverband. Weihbischof Puff und ich stehen ebenfalls dahinter, und vor Ort sind die Integrationsbeauftragten tätig. Sie stärken das Netzwerk, vernetzen und fördern.
Wir schaffen Begegnungsorte, an denen Menschen aufeinandertreffen. Dann hört diese Entindividualisierung auf und der einzelne Mensch bekommt einen Namen und ein Gesicht. Dadurch kann echte Integration entstehen.
DOMRADIO.DE: Damals, im Jahr 2015, war die Willkommenskultur stark. Viele Freiwillige haben geholfen. Heute wird verstärkt über Obergrenzen und Aufnahmebeschränkungen diskutiert. Die AfD ist eine der stärksten Parteien. Warum hat sich die Stimmung Ihrer Meinung nach so gewandelt?
Hensel: Für manche war Integration schon immer nur dann akzeptabel, wenn sie möglichst einseitig verläuft, also mehr Assimilation als Integration. Heute erleben wir eine längere Dauer und eine größere Anzahl an Geflüchteten. Es sind viele Halbwahrheiten, polarisierende Meldungen und Meinungsmache unterwegs, die diese Spannungen verstärken.
Anfang des Jahres gab es jedoch auch große Demonstrationen für Demokratie und Mitmenschlichkeit – ein Signal, dass dieses Thema auch eine Herausforderung für unsere Gesellschaft ist. Die Belastungen und Überforderungen sind dabei für viele spürbar.
DOMRADIO.DE: Kanzlerin Merkel sagte 2015 den berühmten Satz "Wir schaffen das". Doch heute hört man von überlasteten Kommunen, fehlendem Wohnraum und riesiger Bürokratie. Können Sie verstehen, dass viele Menschen daran zweifeln?
Hensel: Ja, das kann ich nachvollziehen, wenn man nur die Probleme sieht und keine Perspektive für Lösungen erkennt. Ich erlebe jedoch häufig gelungene Integration und habe viele ermutigende Momente. Politisch gibt es momentan wenig klare Linien. Wir haben lange gezögert, uns als Einwanderungsland zu bekennen, obwohl wir durch unsere Lage und unseren Wohlstand Geflüchtete anziehen.
Zudem wurde das Thema Migration mit dem des Asyls vermischt. Beides ist zusammengeschmissen worden und wird damit geschliffen. Das macht es schwierig, denn Asyl betrifft Menschen, die vor Krieg und Gewalt fliehen, während Migration andere Ursachen haben kann. Migration ist ein Kennzeichen unserer Zeit. Solche Vermischungen verunsichern die Menschen. Auch weil es politisch unkontrolliert wirkt. Das macht den Leuten Angst.
DOMRADIO.DE: Erst vergangene Woche wurde auf der Ministerpräsidentenkonferenz erneut das Thema Obergrenzen für Geflüchtete angesprochen. Wie sehen Sie das?
Hensel: Die "Aktion Neue Nachbarn" richtet sich auf die Geflüchteten, die hier sind. Unsere Aufgabe ist es nicht, politische Debatten über Obergrenzen zu führen. Wir kümmern uns um die Menschen, die schon hier sind, und unterstützen sie in Kindergarten, Schule, Ausbildung oder Arbeitsmarkt, bieten Frauen Schutz und schaffen Therapieplätze für Traumatisierte.
Wir diskutieren nicht mit ihnen, ob und wie viel persönliches Recht sie haben, hier zu sein oder ob die Zahl jetzt überschritten ist. Das ist keine hilfreiche, weiterbringende Diskussion. Wir helfen einfach.
Deswegen sind Familienzusammenführungen für uns ebenfalls wichtig. Sie stabilisieren und wirken integrationsfördernd. Auch wenn das politisch oft infrage gestellt wird, bleibt für uns in dieser Beanspruchung entscheidend, zivilisiert und christlich zu handeln – ohne unseren Kompass zu verlieren.
Das Interview führte Carsten Döpp.
Information der Redaktion: Mit einem Festakt in Siegburg feiert die Flüchtlingshilfe "Aktion Neue Nachbarn“ im Erzbistum Köln am 31. Oktober ihr zehnjähriges Bestehen. Festredner ist unter anderem der ehemalige Kanzleramtschef Peter Altmaier. DOMRADIO.DE überträgt live.