Pirmin Spiegel zieht Bilanz seiner Misereor-Jahre

"Wir haben die Unschuld verloren"

Eine Ära geht zu Ende: Nach 12 Jahren im Amt verlässt Hauptgeschäftsführer Pirmin Spiegel Misereor. Hier blickt er auf seine Amtszeit zurück, verrät, was er seinem Nachfolger Andreas Frick mit auf den Weg gibt - und was er nun vorhat.

Pirmin Spiegel, Hauptgeschäftsführer von MISEREOR, feiert gemeinsam mit den Schülern die Eröffnung der diesjährigen Fastenaktion. / © Tomasetti (DR)
Pirmin Spiegel, Hauptgeschäftsführer von MISEREOR, feiert gemeinsam mit den Schülern die Eröffnung der diesjährigen Fastenaktion. / © Tomasetti ( DR )

DOMRADIO.DE: Wie kam es eigentlich dazu, dass Sie vor zwölf Jahren Hauptgeschäftsführer des größten katholischen Entwicklungshilfswerk der Welt wurden?

Von links nach rechts: Pirmin Spiegel, Hauptgeschäftsführer des Bischöflichen Hilfswerks Misereor, Otto Georgens, Weihbischof in Speyer, und Stephan Burger, Erzbischof von Freiburg und Vorsitzender der Unterkommission für Entwicklungsfragen der Deutschen Bischofskonferenz, zu Besuch bei Kleinbauern in der Gemeinde El Tambo im südlichen Hochland Kolumbiens am 30. Januar 2024 / © Alexander Brüggemann (KNA)
Von links nach rechts: Pirmin Spiegel, Hauptgeschäftsführer des Bischöflichen Hilfswerks Misereor, Otto Georgens, Weihbischof in Speyer, und Stephan Burger, Erzbischof von Freiburg und Vorsitzender der Unterkommission für Entwicklungsfragen der Deutschen Bischofskonferenz, zu Besuch bei Kleinbauern in der Gemeinde El Tambo im südlichen Hochland Kolumbiens am 30. Januar 2024 / © Alexander Brüggemann ( KNA )

Pirmin Spiegel (Priester und scheidender Hauptgeschäftsführer des Hilfswerks Misereor): Die Erfahrung als Seelsorger und Ausbilder für Missionare in ganz Lateinamerika war sehr hilfreich. Die Erfahrungen meines Lebens und meines Arbeitens in Brasilien und Südamerika haben mir ermöglicht, Mystik und Politik, Kampf und Kontemplation zusammenzubringen, damit die Früchte der frohen Botschaft greifbar sind für die Vulnerabelsten und Ärmsten. Und auch, um mit der Perspektive von Lateinamerika und Brasilien auf Europa zu sehen. Wir kennen Geschichten von hier über Brasilien, aber kaum die eigenen Geschichten von Brasilianerinnen und Brasilianern. 

Also, das war sehr hilfreich, hier dann 2012 zu beginnen. Es gibt hier bei Misereor mit den 380 Mitarbeitenden unheimlich hohe Expertisen in den verschiedensten Fachbereichen: Wasserentwicklung, Agrarwirtschaft, Urbanisierung, Ethnologie. Aber 15 Jahre in einem Land des globalen Südens gelebt zu haben, ist noch mal eine Expertise, die zumindest für die Zeit der letzten zwölf Jahre sehr geeignet war, um sie hier einzubringen ins Haus und damit auch in das Wirken Misereors in der Öffentlichkeit, in Kirche und Gesellschaft.

Pirmin Spiegel / © Julia Steinbrecht (KNA)
Pirmin Spiegel / © Julia Steinbrecht ( KNA )

DOMRADIO.DE: Was waren die Hauptziele von Misereor in Ihrer Ära?

Spiegel: Misereor hat seit der Gründung 1958 drei große Aufgaben: die Bildungsarbeit hier in Deutschland aufgrund der Erfahrung mit Partnern in mehr als 80 Ländern. Die Lobbyarbeit. Und Misereor hat in der DNA, an die Ursachen heranzugehen, um assistenzialistische, permanente Hilfe zu Emanzipationsprozessen auf den Weg zu bringen. Und dann durch Projektarbeit einen Beitrag für die Bildungsarbeit und für die Lobbyarbeit zu leisten. Die Welt wird durch die Informationsmöglichkeiten immer kleiner, überschaubarer, kommt an uns näher dran. Und da versuchen wir als Werk der Entwicklungszusammenarbeit und der internationalen Kooperation, geprägt vom christlichen Werten her gemeinsam einen Beitrag zu leisten, dass die Stimmen der Vulnerablen, der Ausgegrenzten, nicht überhört werden, sondern mit in die politischen Entscheidungen hineingenommen werden.

Wir versuchen, in der Öffentlichkeit in Deutschland und in der EU die Überzeugung wachzuhalten, dass es EINE Welt gibt. Von der Idee her ist unser Planet nicht aufgeteilt in drei oder vier Welten. Es ist eine Welt. Alles Lebendige ist eine Einheit. Misereor ist auch Mitgründerin von "GEPA Fairer Handel in der Welt". Sie treffen heute auch in normalen Lebensmittelgeschäften die fair gehandelten Produkte an. Es geht also um mehr als Geld. Es geht auch darum, Öffentlichkeit herzustellen, Menschen ins Gespräch zu bringen, die ansonsten nicht auf der Bildfläche erscheinen würden.

Pirmin Spiegel

"Es ist doch wunderschön, wenn Menschen weltweit sagen: da gibt es so ein kleines Hilfswerk in Deutschland, das hat dazu beigetragen, dass in einer fast ausweglosen Situation gemeinsam Auswege entwickelt wurden."

DOMRADIO.DE: Was lag Ihnen persönlich besonders am Herzen?

Spiegel: Wenn wir in Notsituationen präsent waren, sei es menschlich, sei es durch finanzielle Unterstützung. Menschen in Not werden sich erinnern, dass sie in solchen Momenten der Not nicht vergessen wurden, dass sie gehört wurden. Ihr Schrei, ihr Leiden. Und das ist eine wunderschöne Art, die Menschlichkeit zeigt, Brückenbau zeigt und wie Kooperation möglich ist. Es ist doch wunderschön, wenn Menschen weltweit sagen: Da gibt es so ein kleines Hilfswerk in Deutschland, das hat dazu beigetragen, dass in einer fast ausweglosen Situation gemeinsam Auswege entwickelt wurden. Das ist ein Beitrag, der zeigt: Ja, Mitmenschlichkeit hat Vorrang. 

Das ist auch eine Art von Außenpolitik oder von internationaler Kooperation: Nicht nur einen Beitrag zu Heilung leisten, zu heilen, sondern zu vertrauen, dass die Potenziale der Heilung im eigenen Land liegen. Und das ist eine Philosophie Misereors: Die Experten und Expertinnen sind vor Ort, in den Ländern selbst. Das bringt uns manchmal zu Konflikten hier in Deutschland, weil hier wissen wir es ja immer alles besser, wir haben doch die Lösungen! Nein, wir haben sie nicht. Es geht nur mit den Betroffenen und mit dem Potenzial und den Möglichkeiten der Partner. 

Pirmin Spiegel

"Wir sprechen da von Kraft der Peripherie, nämlich, dass die Menschen an den Rändern eine Kraft zur Veränderung haben."

DOMRADIO.DE: Welche Dinge haben Sie in Ihrer Amtszeit vorangetrieben?

Spiegel: Was wir intensiviert haben, ist die Zusammenarbeit mit der Wissenschaft. Diese Beratung und wissenschaftliche Absicherung ist uns enorm wichtig. Das wird auch gesehen und gehört. 

Wenn wir auf die globalen Zusammenhänge der Wirtschaft schauen, sehen wir: Wir haben die Unschuld verloren. Zu sagen, dass wir alles, was wir haben, unseren ganzen Reichtum selber verdient haben, trägt nicht mehr. Wir sind sehr abhängig und diese Abhängigkeit ist eine Möglichkeit, den anderen als Konkurrenz zu sehen, ist aber auch eine Möglichkeit zu kooperieren, um gemeinsam neue Wege zu entdecken. Wir sprechen da von Kraft der Peripherie, nämlich, dass die Menschen an den Rändern eine Kraft zur Veränderung haben. Und dieses Potenzial müssen wir auch weiter ausschöpfen.

DOMRADIO.DE: Gibt es etwas, was Sie Ihrem Nachfolger Andreas Frick gerne noch mit auf den Weg geben würden? 

Spiegel: Lache mit den Menschen, weine mit den Menschen, höre zu, schätze wert! Lerne die Lebensgeschichten kennen, das Geheimnis, das hinter jeder Person ist. Den Schatz, den unsere Partner für uns haben. Und ich habe zu ihm gesagt: "Du hast hier ein Haus mit 380 hochkompetenten, erfahrenen Mitarbeitenden, die für Misereor brennen. Habe ein gutes Ohr, um Entscheidungen zu treffen und das Haus mitzunehmen. Weil alleine wirst du nicht ans Ziel kommen. 

Die Ursprungsidee von Misereor war der Kampf gegen Hunger und Krankheit in der Welt und deren Ursachen. Hunger fällt nicht vom Himmel. Migration fällt nicht vom Himmel. Von daher geht es auch nicht nur darum, zu geben und am nächsten Tag wieder vor dem gleichen Problem und der gleichen Herausforderung zu stehen. Wie können wir an die Ursachen herankommen, damit eine Wunde heilt oder vernarbt? Und von daher das ist die Causa Misereor, da dran zu bleiben durch Öffentlichkeitsarbeit, durch Bildungsarbeit, durch Hören auf Partner und durch gemeinsames Suchen von Lösungsansätzen für die Ursachen von Gewalt, von Unversöhnlichkeit, von Hunger, von Migration. Da wird ganz konkret in der Arbeit Misereors, dass das machbar ist. Wir sind noch nicht bei 100 %. Es bleibt noch viel zu tun!

DOMRADIO.DE: Aber Ihr Blick in die Zukunft ist eher optimistisch. 

Spiegel: Ich bin nicht nur optimistisch, sondern habe eine positive Erwartungszuversicht. In meinem Inneren spüre ich das, weil ich an so vielen Orten auch die Erfahrung gemacht habe, dass es möglich ist, dass es bereits jetzt geschieht. Deshalb bin ich ein eher zuversichtlicher Mensch. 

DOMRADIO.DE: Wohin zieht es Sie denn hin ab Juli?

Spiegel: Nach langem Überlegen habe ich mich entschieden, in Deutschland zu bleiben. Meine Erfahrung ist, dass es sehr viele Segensorte in der Gesellschaft gibt - in Vereinen, in temporären Gruppen, in permanenten Gruppen -, die die Schreie der Armen und Vergessenen hören, von denen wir gar nichts wissen. Und da würde ich gerne lernen, mittun, Erfahrungen einbringen, zuhören und auch die vielen Netzwerker, die ich kennengelernt habe in den letzten zwölf Jahren in Deutschland, in Europa und weltweit, versuchen mit einzubringen und zu sagen: Der globale Traum eines Lebens in Fülle und eines Lebens, in dem Platz ist für alle am Tisch, der ist an vielen Orten bereits real. Da will ich helfen und in demütiger, einfacher Weise lokale Initiativen unterstützen.

DOMRADIO.DE: Und wie genau wollen Sie das angehen? 

Spiegel: Soweit es die Zeit zuließ, habe ich schon angefangen zu hören, zu lernen, was es in der Region Speyer in der Pfalz für Initiativen gibt, wo Menschen sich kümmern, damit die soziale Schere und die Risse in der Gesellschaft nicht noch größer werden. Menschen, die versuchen, ein Leben in glücklicher Genügsamkeit zu leben, wie der Papst gesagt hat. Bei diesen Gruppen würde ich gerne anklopfen, zuhören, mitmachen und mich dann in die Prozesse dieser Gruppenidee hineinbegeben. Ich glaube, das ist hochpolitisch. Im Glaubensbekenntnis sagen wir ja: "Ich glaube an die eine heilige weltumfassende Kirche." Diesem Bild möchte ich umfassend ein Gesicht geben. 

Das Interview führte Elke Saur.

Misereor-Fastenaktion 2024

"Steht auf gegen Unrecht" 

Mit einem Aufruf zu mehr Einsatz gegen ungerechte Machtstrukturen weltweit ist die Fastenaktion des katholischen Hilfswerks Misereor am Sonntag in Ludwigshafen eröffnet worden. Die bundesweite Spendenaktion in den Wochen vor Ostern thematisiert am Beispiel Kolumbiens den Wert einer nachhaltigen Landwirtschaft; das Motto lautet "Interessiert mich die Bohne". Das ARD-Fernsehen übertrug den Festgottesdienst aus der Pfarrkirche Sankt Ludwig live.

Die Landpastoral der Diözese Pasto setzt sich für ein bäuerliches Leben in Würde auf dem Land ein. Mit alternativen Anbaumethoden unterstützt das Projekt kleinbäuerliche Familien in Kolumbien. / © Kopp (MISEREOR)
Die Landpastoral der Diözese Pasto setzt sich für ein bäuerliches Leben in Würde auf dem Land ein. Mit alternativen Anbaumethoden unterstützt das Projekt kleinbäuerliche Familien in Kolumbien. / © Kopp ( MISEREOR )
Quelle:
DR
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