Theologe Odenthal sieht im Kölner Dom ein reiches Erbe

"In Kontinuität mittelalterlicher Bräuche"

Vor 700 Jahren wurde der gotische Chorraum des Kölner Domes geweiht. Wie die mittelalterliche Liturgie darin gefeiert und was aus dem alten Dom übernommen wurde, erklärt Andreas Odenthal und hat auch Vorschläge für die Gegenwart.

Blick in den Chorraum des Kölner Domes / © Julia Steinbrecht (KNA)
Blick in den Chorraum des Kölner Domes / © Julia Steinbrecht ( KNA )

DOMRADIO.DE: Wie muss man den alten karolingischen Kölner Dom als liturgisch funktionierendes Gebäude verstehen?

Prof. Dr. Andreas Odenthal / © schafgans dgph (privat)
Prof. Dr. Andreas Odenthal / © schafgans dgph ( privat )

Prof. Dr. Andreas Odenthal (Seminar für Liturgiewissenschaft der Universität Bonn): Der Alte Kölner Dom war eine doppelchörige Basilika, wie es heute noch bei den Domen von Mainz, Trier, Bamberg und anderen der Fall ist. In Köln war der Westchor dem heiligen Petrus geweiht, der Ostchor St. Maria. Auf der Achse im Kirchenschiff befand sich der Kreuzaltar.

Dombaumeister Arnold Wolff hat diesen Altartiteln die Festgeheimnisse des Kirchenjahres zugeordnet: Der Osten mit dem Marienaltar repräsentiert im Kirchenraum den Weihnachtsfestkreis, der Kreuzaltar den Osterfestkreis, der Petrusaltar das Pfingstfest als Geistbegabung der Kirche – man denke nur an die in der Apostelgeschichte geschilderte Pfingstpredigt des Petrus (Apg 2).

Hinzu gesellen sich die vier Altäre in den Querschiffarmen: St. Stephanus sowie St. Cosmas und Damian im West- bzw. Ostquerschiff auf der Südseite, St. Martin sowie St. Severin im West- bzw. Ostquerschiff auf der Nordseite. Auch diese Anordnung ergibt einen Sinn: Die Südaltäre sind den Märtyrern, die Nordaltäre den Bekennern vorbehalten.

Der entscheidende Punkt ist, dass die Hauptaltäre auf der Achse einen Bezug zu Rom darstellen: Mit dem Marienaltar ist die römische Kirche St. Maria maior (Santa Maria Maggiore; Anm. d. Red.) repräsentiert, mit dem Kreuzaltar die römische Kreuzkirche (Santa Croce in Gerusalemme; Anm. d. Red.), mit dem Petrusaltar Alt St. Peter. Deshalb liegt der Peterschor auch im Westen, "romano more", "nach römischer Weise" wie Alt St. Peter.

DOMRADIO.DE: Die Reliquien der Heiligen Drei Könige waren im wesentlichen für den Bau des gotischen Domes ab 1248 verantwortlich. Wie hat sich ihre Verehrung im alten Dom niedergeschlagen?

Odenthal: Bis zur Ankunft der Dreikönigsreliquien im Jahre 1164 waren die Petrusreliquien, allen voran der Stab Petri, die wichtigsten Reliquien des Kölner Domes. Sie wurden wahrscheinlich in der unter dem westlichen Peterschor liegende Krypta verwahrt. Auch das war ein Zitat römischer Bräuche: In Alt St. Peter war seit Gregors des Großen Zeiten der Altarraum des Westchores über dem Petrusgrab angehoben und mit einer so genannten Confessio-Anlage darunter versehen worden, so dass einerseits die Pilger in der Krypta in die Nähe des Petrusgrabes gelangen konnten, andererseits die Liturgie darüber durch die Pilgerströme nicht gestört wurde.

Prof. Dr. Andreas Odenthal

"Durch die Ankunft der Dreikönigsreliquien im Jahre 1164 wurde das System gestört: Jetzt musste auf der Kirchenachse ein Schrein aufgestellt werden, der wahrscheinlich mit einem Altar verbunden war."

Dieses Modell übernahm man auch im Westchor des Kölner Domes. Aber durch die Ankunft der Dreikönigsreliquien im Jahre 1164 wurde das System gestört: Jetzt musste auf der Kirchenachse ein Schrein aufgestellt werden, der wahrscheinlich mit einem Altar verbunden war. Damit relativierte sich zum einen die Bedeutung der Petrusreliquien zugunsten der Drei Weisen, zum anderen gab es einen vierten Altar auf der Kirchenachse im Mittelschiff, der mit dem Dreikönigenschrein nun seinerseits für die Pilgerströme zugänglich gemacht werden musste.

Dies neue Akzentsetzung der sakralen Binnentopographie des karolingischen Kölner Domes führte dann letztlich auch zum Domneubau. 

DOMRADIO.DE: Hat man beim Bau des neuen Domes das alte liturgische Konzept übernommen oder wurde etwas Neues geschaffen?

Der Hochaltar im Kölner Dom

Der gemauerte Altartisch ist mit schwarzem Marmor verkleidet, wobei die an einem Stück gearbeitete Deckplatte der größte Stein des Domes ist. Sehr wirkungsvoll sind dem dunklen Hintergrund an den Lang- und Schmalseiten des Altares zierliche Arkaden aus weißem Carraramarmor vorgeblendet, in denen kleine Statuetten und jeweils in der Mitte einer Seite auch kleine Figurengruppen stehen. Während die Einzelfiguren Propheten, Apostel und Heilige repräsentieren, stellen die mehrfigurigen Gruppen Szenen aus dem Marienleben dar.

Hochaltar im Hochchor mit Dreikönigenschrein / © Gerald Mayer (Erzbistum Köln)
Hochaltar im Hochchor mit Dreikönigenschrein / © Gerald Mayer ( Erzbistum Köln )

Odenthal: Der gotische Dom schafft etwas im Vergleich zum karolingischen Dom Neues, nämlich eine fünfschiffige geostete Anlage mit Doppelturmfassade im Westen: Der neue Plan sah also keine Doppelchörigkeit mehr vor, was im Domkapitel damals auch Widerstand hervorrief.

Dabei stand Domneubau vor einem gewichtigen Problem: Der Alte Dom musste Abschnitt für Abschnitt ersetzt werden, um die Kontinuität des Gottesdienstes zu gewährleisten – trotz aller behindernden Baustellen. Deshalb war der erste Schritt, die Ostanlage des Alten Domes abzutragen, während die Westanlage zum weiteren gottesdienstlichen Gebrauch bestehen blieb.

Der gotische Domchor mit seinem Kapellenkranz und dem neuen Hochaltar wurde am Cosmas- und Damians-Fest, das nach dem alten Kalender am 27. September gefeiert wurde, im Jahre 1322 konsekriert. Auch das ist nicht von ungefähr, schließlich erfreuen sich beide Heiligen im Mittelalter höchster Beliebtheit: Das bedeutende Damenstift Essen trägt ihr Patronat, Reliquien der Heiligen sind die Gründungsreliquien des Bremer Domes (heute in St. Michael in München), und schließlich ist einer der bedeutenden Nebenaltäre des Alten Domes den beiden Heiligen geweiht.

Nach Fertigstellung des neuen Domchores wurden der alte Peterschor im Westen und der neue Marienchor im Osten eine Zeit lang zugleich benutzt. In einem ersten Schritt konnte also bei Mitnutzung des alten Westteils der gotische Ostbau mit den Patronaten des Ostchores und -querschiffs des Alten Domes belegt werden: Maria als Patronin des Hauptaltares, im Süden St. Cosmas und Damian (heute Marienkapelle), im Osten St. Severin (heute Kreuzkapelle).

Erst nach Abbruch des alten Westchores fielen dort beheimatete Patronate einfach weg, wie etwa der Martinstitel, oder wurden im Neuen Chor untergebracht, vor allem der Peterstitel am neuen Hochaltar. Vielleicht zeigt sich das noch in zwei Besonderheiten der Hochaltarmensa: Sie besitzt weder Weihekreuze noch ein Reliquiengrab, denn das war am alten Petersaltar mit der in der Krypta darunter geborgenen Petrusreliquie auch nicht nötig – was nun auch für den gotischen Hochaltar galt.

Prof. Dr. Andreas Odenthal

"Das überträgt man dergestalt auf den neuen Hochaltar, dass die Kathedra des Bischofs dahinter im Scheitelpunkt des gotischen Binnenchores stand und von hierher die Mensa von Osten aus bedient wurde, jetzt allerdings mit Blick des Priesters nach Westen."

Und der alte Petrusaltar wurde aufgrund seiner Lage im Westchor gemäß römischer Sitte nach Osten hin bedient. Auch das überträgt man dergestalt auf den neuen Hochaltar, dass die Kathedra des Bischofs dahinter im Scheitelpunkt des gotischen Binnenchores stand und von hierher die Mensa von Osten aus bedient wurde, jetzt allerdings mit Blick des Priesters nach Westen.

Zudem war der Plan des gotischen Domes darauf aus, den Dreikönigenschrein in der Vierung zu platzieren. Als sich die Fertigstellung des Domes hinauszögerte, kam es zu einer Planänderung: Der Schrein wurde in der Achskapelle installiert, und der Chorumgang wurde für die Pilger als Wallfahrtsweg zugänglich gemacht.

Die Heiligen Drei Könige in Köln

Die Gebeine der "Heiligen Drei Könige" werden im Kölner Dom aufbewahrt. Die im Matthäusevangelium "Magier aus dem Osten" genannten Männer hatten als erste den neugeborenen Jesus als Sohn Gottes angebetet. Ihre sterblichen Überreste wurden am 23. Juli 1164 vom Kölner Erzbischof Rainald von Dassel als Kriegsbeute aus dem eroberten Mailand an den Rhein gebracht. Letztlich entstand ihnen zu Ehren der gotische Dom.

Die Anbetungsszene mit den Heiligen Drei Königen auf der Stirnseite des Schreins. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Die Anbetungsszene mit den Heiligen Drei Königen auf der Stirnseite des Schreins. / © Beatrice Tomasetti ( DR )

DOMRADIO.DE: Hat sich daran mit der Vollendung des Domes im Jahr 1880 noch einmal etwas geändert?

Odenthal: Das 19. Jahrhundert hat ein völlig neues Stilempfinden und steht unter ganz anderen Bedingungen als das Mittelalter, von denen ich nur einige nenne: Die Nutzung des gesamten Dominnenraumes im Laufe des 19. Jahrhunderts stellt den Gottesdienst allein aufgrund der Größe des Domes vor neue Herausforderungen. Zudem ist nicht nur der Pontifikalgottesdienst, sondern auch der Gottesdienst der Dompfarrei zu gewährleisten, wozu man die Cosmas- und Damiankapelle mit dem Marienaltar herrichtete.

In der Vierung an der Schwelle zum Binnenchor des Domkapitels wurde ein mobiler hölzerner Altar situiert, der übrigens heute noch an Fronleichnam genutzt wird. Der Dreikönigenschrein verblieb noch eine Zeit lang in der Achskapelle und wurde dann mit Teilen des barocken Mausoleums dort installiert, wo sich heute die Schmuckmadonna befindet. Die großen barocken Leuchterappliken bei der Schmuckmadonna beziehen sich ursprünglich nicht auf sie, sondern auf den Dreikönigenschrein – und sollten eigentlich dringend wieder an den alten Platz im Umgang des Domchores gebracht werden.

Zu erwähnen ist schließlich auch eine fast flächendeckende Entfernung der Ausstattungstücke der Barockzeit während des 19. Jahrhunderts, so wie vor einigen Jahren umfänglich die zum Teil hervorragenden Ausstattungsstücke der fünfziger Jahre entfernt wurden.

DOMRADIO.DE: An welche Stelle im heutigen Dom gehört – wenn man die ursprüngliche Intention berücksichtigt – der Schrein mit den Reliquien der Heiligen Drei Könige?

Odenthal: Das ist eine nur schwer zu beantwortende Frage, bei der man sich immer in die Nesseln setzt. Denn es hängen an den Standorten auch emotionale Erlebnisse. Den jetzigen, im Grunde unhistorischen Standort hinter dem Hochaltar gibt es seit dem Zweiten Weltkrieg. Es war das große Erlebnis des Domfestes von 1948, dass nach den Zerstörungen und dem Elend des Krieges nun ein neuer Anfang gesetzt wurde und der Dom und seine Heiligtümer wieder zur Verfügung standen, weil sie gottlob einigermaßen unbeschadet den Krieg überstanden hatten.

Vorher stand der Schrein dort, wo jetzt die Schmuckmadonna untergebracht ist: Die Stirnseite war vom Dom aus durch die Gitter zu sehen, der Schrein selbst in der dahinterliegenden Schatzkammer zu besichtigen. Die Position davor war, wie erwähnt, in der Achskapelle. Nur an der bei der Domplanung im 13. Jahrhundert angedachten Stelle im Vierungsbereich stand der Schrein nie.

Prof. Dr. Andreas Odenthal

"Ich persönlich plädiere für eine Aufstellung [des Dreikönigenschreins] in der Achskapelle, weil dann der Chorumgang als Prozessions- und Pilgerweg noch besser genutzt werden und zugleich die Hochaltarmensa 'versus populum', zum Volk hin gewendet, genutzt werden könnte."

Der Dreikönigenschrein im Kölner Dom, davor der Hochaltar / © DOMRADIO.DE (DR)
Der Dreikönigenschrein im Kölner Dom, davor der Hochaltar / © DOMRADIO.DE ( DR )

Dombaumeister Arnold Wolff hatte zwar einmal eine Skizze mit einer Platzierung hinter dem Vierungsaltar und mit der wieder aufgestellten Barockausstattung der Hochchoraltäre gemacht, aber das kam, wie wir wissen, nie zur Ausführung. Ich persönlich plädiere für eine Aufstellung in der Achskapelle, weil dann der Chorumgang als Prozessions- und Pilgerweg noch besser genutzt werden und zugleich die Hochaltarmensa "versus populum", zum Volk hin gewendet, genutzt werden könnte.

DOMRADIO.DE: An manchen Tagen werden im Dom die Gottesdienste an bestimmten Orten gefeiert, zum Beispiel am Fest Kreuzerhöhung vor dem Gerokreuz oder an bestimmten Gedenktagen an den Gräbern der im Dom ruhenden Heiligen. Lebt auf diese Weise das mittelalterliche Stationssystem weiter?

Odenthal: Mittelalterlicher Gottesdienst lebt von "Stationen": Es ist ein Gottesdienst an vielen unterschiedlichen Orten, die durch Prozessionen miteinander verbunden wurden. Ein Beispiel: Im gotischen Domchor zog das Domkapitel an den Freitagen der Fastenzeit jeweils zu einer Chorkapelle, in der dann die Messe stattfand.

Doch dieses "Stationssystem" gab es nicht nur für das Kircheninnere, sondern auch für das Stadtgebiet: An den großen Feiertagen kamen die einzelnen Stifte mit ihren Klerikern zum Dom oder auch zu den anderen Stiftskirchen, um gemeinsam zumindest Teile des Gottesdienstes zu feiern. Ein Beispiel ist der Palmsonntag: Alle Stifte versammelten sich in St. Gereon zur Palmenweihe, und von dort zog die Palmprozession zum Dom, wo das Hochamt stattfand.

Prof. Dr. Andreas Odenthal

"Die heutige gelegentliche Nutzung einzelner Altäre des Domes steht somit in Kontinuität mittelalterlicher Bräuche."

Auf diese Weise konnte die Stadt als "Kirchenfamilie" erlebt werden. Die heutige gelegentliche Nutzung einzelner Altäre des Domes steht somit in Kontinuität mittelalterlicher Bräuche.

DOMRADIO.DE: Wer frühmorgens in den Dom kommt, sieht neben den öffentlich gefeierten Messen in der Marienkapelle auch einzelne Priester in den Chorkapellen privat Gottesdienst feiern. Ist das nach dem letzten Konzil noch sinnvoll?

Odenthal: Darüber kann trefflich gestritten werden. Die Liturgiekonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils hat grundsätzlich die Gemeindemesse als Norm dargestellt, aber dennoch die eher privaten Messfeiern nicht ausgeschlossen (SC 27). Aber statt in diese Diskussion einzusteigen, lassen Sie mich das Phänomen der Messfeiern an den einzelnen Altären besser aus mittelalterlicher Sicht verständlich machen, denn nur so können wir die mittelalterlichen Kirchenbauten verstehen.

Prof. Dr. Andreas Odenthal

"Bei der Messzelebration des Priesters an den Seitenaltären geht es dem Mittelalter weder um Klerikalismus noch primär um private priesterliche Frömmigkeit, sondern um den 'Heiligen Ort': Er zieht die Feier der Eucharistie auf sich, die der Priester stellvertretend für die gesamte Kirche feiert."

Bei der Messzelebration des Priesters an den Seitenaltären geht es dem Mittelalter weder um Klerikalismus noch primär um private priesterliche Frömmigkeit, sondern um den "Heiligen Ort": Er zieht die Feier der Eucharistie auf sich, die der Priester stellvertretend für die gesamte Kirche feiert. Ein solcher heiliger Ort sind vor allem Märtyrerstätten, bald aber jeder Altar, da in ihn Reliquien eingelassen sind.

Die Tendenz ist sehr gut für Alt St. Peter in Rom nachgewiesen, wo das Petrusgrab im Laufe der Zeit zu einer Vielzahl von Altären führt. Im 8. Jahrhundert wird sogar eine eigene Kapelle im Innern eingerichtet, um Reliquien aufzunehmen. Dann aber muss nach mittelalterlicher Vorstellung hier auch Eucharistie gefeiert werden, zu Ehren der Reliquien und der Heiligen: Das ist aber die EINE Eucharistie der Kirche, die sich nach mittelalterlichem Verständnis an vielen Orten realisiert.

Vor diesem Hintergrund sind mittelalterliche Kirchenbauten mit ihren vielen Kapellen und Altären zu verstehen – und auch der damals intensiv im Chorgestühl und an den einzelnen Altarstellen gefeierte mittelalterliche Gottesdienst. Der Kölner Dom bietet also ein reiches Erbe. Deshalb ist es eine immer neue Herausforderung, dieses Erbe an kommende Generationen weiterzureichen – auch in Bezug auf den Gottesdienst.

Das Interview führte Jan Hendrik Stens.

Quelle:
DR