Klänge und Töne als Produkt von Berechnungen und Proportionen? Ist Musik also nichts anderes als ein ausgetüfteltes Prinzip aus der Welt der Zahlen? Was auf den ersten Blick befremdlich erscheint, entspricht jahrtausendealtem Denken und lässt sich bis zum antiken Philosophen Pythagoras zurückverfolgen. Auch im Kölner Dom existieren beredte Zeugnisse solcher frühen Forschungsergebnisse. Denn an zentraler Stelle im Binnenchor vor dem Dreikönigenschrein ist in den Boden ein kreisrundes Mosaik mit einem Kranz von sieben kleinen Bildmedaillons eingelassen, die die sogenannten Sieben freien Künste – lateinisch: septem artes liberales – zeigen. Allegorische Frauengestalten mit typischem Beiwerk ranken sich hier um den kaiserlichen Thron und verkörpern die Grammatik, Rhetorik, Dialektik, die Arithmetik, Geometrie, Astronomie – und nicht zuletzt: die Musik.
"Immer wenn ich montags in der Marienkapelle an der kleinen Orgel den Werktagsgottesdienst spiele, laufe ich hier vorbei – nun schon seit 21 Jahren", stellt Domorganist Winfried Bönig fest. "Dass ausgerechnet auch die Musik als Grundlage dessen betrachtet wird, was unsere Welt im Innersten zusammenhält, und hier einen solch zentralen Platz im ältesten Teil der Kathedrale bekommen hat, freut mich als Musiker natürlich ganz besonders. Diese Sicht auf das Zusammenwirken elementarer, schon im Altertum bekannter Wissenschaften – eben einschließlich der Musik – die in der Summe vor langer Zeit die ganzheitliche Bildung eines sogenannten freien Mannes ausmachten – also eines Menschen, der keine Fronarbeit leisten musste und zum Broterwerb durch seiner Hände Arbeit gezwungen war – mag überraschend sein. Trotzdem: Die Bedeutung und Wirkmächtigkeit von Musik – wenn ich da von mir auf andere schließe – kann gar nicht hoch genug bewertet werden."
Entstehung der Musik basiert auf mathematischen Erkenntnissen
Kein Wunder, dass sich Bönig dieses Bodenmosaik, speziell das kleine mit bunten Keramiksteinchen zusammengesetzte Bild der Musik, zum Lieblingsort im Kölner Dom erkoren hat. Klar, der Orgeltisch wäre vielleicht naheliegender gewesen, aber eigentlich ist ja kein Instrument – auch nicht das größte unter ihnen – ohne den Oberbegriff "Musik" und die schon so früh erforschten Verhältnismäßigkeiten von Tonintervallen zueinander denkbar, diese Wahl von daher nachvollziehbar. Und dann setzt der Domorganist sogar noch einen drauf: "Mathematik ist für uns heute ein logisches Gebilde aus geometrischen Figuren mit viel Regelwerk und Axiomen. Legt man diese Prämisse zugrunde, ist Musik auf ganz eigene Weise klingende Architektur. Und Architektur – im Umkehrschluss – wiederum Stein gewordene Musik."
Diese Erkenntnis, dass sich in der Musik ein ganzer Zahlenkosmos verbirgt, ist dem Urvater seines Fachs, dem griechischen Mathematiker und Physiker Pythagoras zu verdanken. Es war das Schmiedehandwerk, das ihn darauf brachte, hier erstmalig Kausalzusammenhänge herzustellen. Die kleineren Hammer machten "kling" und "klang", die größeren "honk" und "plonk". Wie er also schnell herausfand, musste ihr unterschiedliches Gewicht ausschlaggebend für den Ton sein. Bei weiteren Nachforschungen kam er einem bestimmten Zahlenverhältnis auf die Spur: An vier gleich langen und gleich gespannten Saiten hängte er zunächst vier Hammer auf. Dann beschwerte er sie mit unterschiedlichen Gewichten, und so erzeugte er voneinander abweichende Schwingungen und Klänge. "Wird eine Saite geteilt, ist der Ton nur noch halb so hoch. Streicher wissen das. Aber dass sich Musik aus diesem Experiment herleiten lässt, ist heute nur noch den Allerwenigsten bekannt", erklärt Bönig. Bei einer Verfeinerung des Systems sei Pythagoras auf immer dieselben Zahlenproportionen gestoßen. "So konnte er bald eine Oktave, Quinte und Quarte voneinander unterscheiden und hatte plötzlich das Rätsel um die Musiktheorie, mit der sich heute viele meiner Studenten herumschlagen, gelöst."
"Spätestens an dieser Stelle ist klar, dass Musik nicht allein schöne Unterhaltung ist, auch wenn sie in diese Richtung oft genug missdeutet wird", betont der gebürtige Bamberger, der neben seiner Tätigkeit als Domorganist Dozent für künstlerisches Orgelspiel und Improvisation an der Musikhochschule Köln ist. "Viel von dem damaligen Wissen um die Beziehungen der Künste zueinander ist heute verloren, was bedauerlich ist. Dass Musik ursprünglich als eine Art klingender Darstellung der Welt verstanden wurde, wird heute kaum noch gelehrt." Dabei hätten die Untersuchungen von Pythagoras später sogar dazu gedient, dieselben Proportionen auf die damals bekannte Welt und den gestirnten Himmel anzuwenden. "Nicht zuletzt entstanden so auch die Abhandlungen zu den sogenannten Sphärenharmonien, die auf der Annahme beruhten, dass sich die Sterne bewegten und die durchsichtigen Kugeln, die die Himmelskörper trugen – also die Sphären – Töne entstehen ließen, die wiederum von den Abständen der Sphären zueinander und ihrer Geschwindigkeit abhingen, mit der sich diese bewegten." Man habe geglaubt, diese Sphärentöne ergäben einen harmonischen Himmelsklang – griechisch: symphonia – der für Menschen zwar nicht hörbar, aber doch irgendwie wahrnehmbar sei und maßgeblich verantwortlich für den Frieden auf der Erde.
Für den Kirchenmusiker Bönig ist Musik aber nicht nur ein Thema, über dessen Ursprünge sich trefflich philosophieren lässt. Sie ist auch Sprache. "In der ich das Glück habe, mich mitteilen zu können", sagt der 62-Jährige nicht ohne Dankbarkeit. "Und dieses Mittel der Verständigung vermag etwas mitzuteilen, was andere Sprachen nicht können, weil sie ihre ganz eigene Ausdrucksweise hat. Insofern ist Musik gerade für den Gottesdienst ganz besonders geeignet und kann die Menschen zum tiefsten Sinn solcher Feiern führen. Sie ist wichtiger Teil der Liturgie."
Daher, so der Experte, sehe er auch seine eigene vornehmliche Aufgabe als Organist darin, "dass die Musik die Gemeinde an die Hand nimmt, sie zum Zentrum des christlichen Glaubens führt und Gotteserfahrung ermöglicht". Das sei wie bei einem Liebesgedicht. "Um ein Gefühl weiterzugeben, braucht es eine ganz eigene Sprache. Und wie wunderbar, wenn man einen Menschen damit erreicht und in ihm etwas ausgelöst wird." Natürlich reagierten die Leute ganz unterschiedlich: "Den einen spricht Musik an, den anderen weniger oder gar nicht. Aber jeder, den man erreicht, ist einer mehr. Und dann gibt es ja auch noch die, bei denen Musik geradezu ekstatische Gefühle auslöst und daraus eine große Liebe wird."
Ein Phänomen, das ganz wesentlich mit Musik zusammenhängt, sich aber jeder Form von Berechenbarkeit entzieht, ist für den Orgelspezialisten die Stille. "Sie ist die Basis, auf der Musik erst entstehen kann." Er schätze sie sehr, gerade abends, wenn der Dom sich allmählich leere, der Geräuschpegel der vielen Tagestouristen verstumme und er sich für nächtliche Übestunden auf der Orgelempore einschließe. "Stille ist etwas so Forderndes, dass sie manch einer gar nicht mehr aushalten kann. Dabei hat Dauerberieselung, wie wir sie heute an jeder Ecke erleben, nicht wirklich etwas mit Musik zu tun." Im Gegenteil, meint der Dommusiker. Meist komme ein Geräuschpegel zu dem anderen noch hinzu. So dürfe man mit Musik nicht umgehen. "Wer dagegen Stille zulassen kann, dem eröffnet sich ein ganz anderer Horizont."
Orgelspiel nicht als Selbstzweck, sondern als Dienst
Es gab schon Nächte – da hat Bönig bis zum Sonnenaufgang auf der Empore der Nordhausorgel zugebracht. "Gerade wenn es ein Stück in sich hat und einem das nächste Konzert im Nacken sitzt. Da heißt es dann üben, üben, üben. Außerdem vergisst man im Dom schon mal ganz schnell die Zeit." Während der Sommermonate habe eine "Übernachtung" im Dom ja auch etwas Vergnügliches, im Winter – wenn die Finger vor Kälte steif würden – dagegen weniger. Aber auch dann besäße der weite leere Raum mit dem im Dunkeln angestrahlten Dreikönigenschrein eine unbeschreibliche Faszination.
Für Winfried Bönig hat sich 2001 mit seiner Berufung an Kölns Kathedrale ein Traum erfüllt. "In diesem Dom nach Lust und Laune alle Register zu ziehen, die richtig großen Gottesdienste begleiten und in dieser fantastischen Architektur musizieren zu dürfen – gleich an zwei so wunderbaren Instrumenten – ist ein großes Privileg", findet er. Trotzdem verstehe er sein Spiel jederzeit als Dienst. "Wie alle Künste dem Menschen dienen sollten und nicht Selbstzweck sind. Letztlich spielt man doch für die anderen. Eigennutz – das wäre mir zu wenig." Ihm sei wichtig, dass seine Musik für die Menschen da sei. "Sonst wäre sie ja doch nur tönendes Erz oder klingende Schelle. Im Idealfall aber eröffnet sie einen Raum für Meditation oder Gebet. Denn ihre wahre Schönheit entfaltet sich erst, wenn der Sender auch auf einen Empfänger trifft – und Beziehung entsteht."
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