DOMRADIO.DE: Wir gucken auf die Ukraine und die Kriegsbetroffenen dort. Haben wir darüber vergessen, dass das Sterben im Mittelmeer weitergeht? Kommt Ihnen das manchmal so vor?
Pfarrer Dr. Matthias Leineweber (Zweiter Vorsitzender Sant'Egidio Deutschland): Ich glaube, das ist so ein bisschen der Zug der Zeit. Wir sind immer sehr aufmerksam für die aktuellen Probleme und die sind ja sehr gravierend. Das ist auch sehr verständlich.
Aber wir eilen manchmal von einer Katastrophe zur anderen. Und dann hat man das andere vergessen. Ich denke nur daran, dass vor einem dreiviertel Jahr im August alle über Afghanistan gesprochen haben. Da gab es eine große Anteilnahme, was sehr schön war. Aber jetzt ist das in weite Ferne gerückt. Oder wer denkt an Somalia? Das ist seit Jahrzehnten ein Land ohne Regierung.
Ich denke, es ist sehr wichtig, einfach den Blick zu weiten und nicht gleich wieder das zu vergessen, was wir gerade erlebt haben.
DOMRADIO.DE: Ist es nicht so, dass wir Flüchtlinge in Deutschland in Flüchtlinge erster und zweiter Klasse einteilen, auch wenn wir das nicht offen sagen?
Leineweber: Diese große Anteilnahme, die ich auch persönlich in meinem Umfeld erlebe, finde ich großartig. Und auch die Entscheidung der EU ist ein Durchbruch, dass sie einheitlich beschlossen hat, trotz mancher Länder, die ja da sehr zurückhaltend sind, die ukrainischen Flüchtlinge sofort aufzunehmen und ihnen einen Status zu geben, Möglichkeiten zu arbeiten und eine Unterkunft zu finden.
Das sollte uns einfach ermutigen, das bei allen anderen Flüchtlingen, bei denen wir uns schwertun, ähnlich umzusetzen. Auch weil wir dringend Arbeitskräfte und Zuwanderung brauchen. Das sagt uns die Ökonomie, das sagen uns die Soziologen. Dass es nicht so weit kommt, sollte uns diese Zeit lehren.
DOMRADIO.DE: Schauen wir noch mal auf die Seenotretter vom Mittelmeer. Tatsächlich werden immer wieder Helfer und Helferinnen angeklagt, wenn sie Menschen aus dem Mittelmeer retten wollen. Am Samstag startet beispielsweise in Sizilien gegen die deutsche Besatzung des privaten Rettungsschiffs "Iuventa" ein Vorprozess. Was steht da eigentlich auf dem Spiel?
Leineweber: Es soll das, was eigentlich Humanität ist und was eigentlich auch christliche Nächstenliebe ist, kriminalisiert werden, nämlich dass man Menschen in extremen Notlagen hilft und sie aus der Not rettet. Ich glaube, das ist etwas, was uns sehr nachdenklich stimmen müsste. Ich denke, dieser Prozess könnte für uns auch eine Anregung sein, mal grundsätzlich über dieses Migrationsproblem nachzudenken und nicht die Retter zu kriminalisieren, sondern das, was wirklich kriminell ist. Das sind die Schlepper und diejenigen, die aus diesem Flüchtlingselend Geschäfte machen.
Man denke nur an Libyen und an diese schrecklichen Lager, von denen wir alle wissen. Dass man darauf eine Antwort gibt, geht nur, indem man die Humanität entkriminalisiert und legale und humane Zugangswege nach Europa ermöglicht, indem man zum Beispiel diesen schon seit sechs Jahren bestehenden Vorschlag der humanitären Korridore umsetzt in mehreren Ländern.
Das ist wirklich ein gutes Modell, legal und human. Ich glaube, das wäre für Europa wirklich ein wichtiger Schritt, auch gerade durch die positiven Erfahrungen mit der Ukraine.
DOMRADIO.DE: Welche Rolle spielt denn der Ukraine-Krieg für die gesamte Fluchtsituation in Europa? Gerade auch wenn wir daran denken, dass vielerorts schon die Nahrungsmittel knapp werden?
Leineweber: Ich glaube, das sind dramatische Auswirkungen. Die ersten Statistiken sind jetzt publiziert worden. Es gibt eine dramatische Zunahme an Binnenflüchtlingen. Das hat in dem letzten Jahr und auch Anfang dieses Jahres schon zugenommen, und das wird durch diese Krise noch einmal mehr zunehmen.
Das sind hauptsächlich Binnenflüchtlinge in den ärmsten Ländern, vor allen Dingen in Afrika, in der Sahelzone zum Beispiel – im Südsudan und in Somalia. Die können dort nicht überall aufgenommen werden. Das wird den Migrationsdruck nach Europa erhöhen. Umso angemessener ist es, dass wir rechtzeitig überlegen, wie wir aus diesen Erfahrungen, so dramatisch das mit der Ukraine war, lernen und dies in eine humanitäre Migrationspolitik in der EU umsetzen können.
Das Interview führte Hilde Regeniter.