Vor 75 Jahren, am 14. und 15. August 1947, wurden Indien und Pakistan unabhängig. Und wäre es nach den Wünschen vieler Unabhängigkeitskämpfer gegangen, wäre aus dem kolonialen Britisch-Indien womöglich ein einheitlicher, säkularer, demokratischer Staat geworden. Aber es kam anders.
Die Briten gaben der Forderung des Führers der politischen Partei der Muslime (All-indische Muslimliga), Muhammad Ali Jinnah, nach einem eigenen Nationalstaat mit sunnitisch-muslimischer Bevölkerungsmehrheit nach. Einig waren sich Jinnah und auf der indischen Seite Mahatma Gandhi jedoch in ihrer Vision von einer vielfältigen Gesellschaft, in der Menschen aller Religionen, Hindus und Muslime, gleichberechtigt sein sollten.
Der Religionskonflikt, aus dem Indien und Pakistan geboren wurden, ist bis heute in beiden Ländern und auch in den bilateralen Beziehungen der beiden Atommächte virulent. Jene Kräfte, die schon vor 75 Jahren für einen islamischen beziehungsweise hinduistischen Gottesstaat stritten, sind heute mächtiger denn je.
Zunehmend "hinduistischer Faschismus"?
Pakistan verdankt seine radikale Islamisierung General Zia ul Haq, der sich 1978 an die Macht putschte und den Islam nutzte, um sich dort zu halten. In der Folge gewannen die Hardliner mit Unterstützung des Geheimdienstes die Oberhand - bis heute hat sich daran nichts geändert.
Religion wird als politische Waffe missbraucht; mit Hetze gegen Christen und auch gegen die islamischen Minderheiten der Schiiten und Ahmadis als angebliche Bedrohung des Islam wird die sunnitische Mehrheit bei der Wahlstange gehalten.
In Indien wurde 2014 mit dem Wahlsieg von Premierminister Narendra Modi und seiner hindunationalistischen Indischen Volkspartei (BJP) der Traum der Hindutva-Bewegung wahr, die seit Jahrzehnten für ein Indien auf Grundlage nicht näher definierter "hinduistischer Werte" kämpft. Im Visier der radikalen Hinduextremisten sind Christen, vor allem aber die rund 204 Millionen Muslime Indiens.
Während hinduextremistische Organisationen vor Ort gewaltsam gegen Muslime vorgehen, sorgen Modi und die BJP mit scheinbar demokratischen Mitteln für eine zunehmende Unterdrückung der Muslime. Im Interview mit Al Jazeera warnte die bekannte indische Menschenrechtlerin Arundhati Roy kürzlich vor einem zunehmenden "hinduistischen Faschismus".
"Christen werden mit dem Westen assoziiert"
Ähnlich sieht es in Pakistan aus. Islamistische Organisationen haben längst Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Justiz unterwandert. Kirchen, hinduistische Tempel, Moscheen von Schiiten und Ahmadi werden immer wieder zum Ziel blutiger Anschläge. "Christen werden fälschlicherweise mit dem Westen assoziiert und das macht sie verletzlich, wenn mal wieder ein anti-amerikanischer Wind durch Pakistan weht", schrieb der katholische Autor Kamran Chaudhry Anfang August in einem Beitrag für den asiatischen Pressedienst Ucanews.
Verglichen mit der Lage zum 70. Unabhängigkeitstag hat sich in Pakistan wenig getan - heute wie damals befindet sich das Land in einer politisch chaotischen Situation. 2017 wurde Premierminister Nawaz Sharif vom Obersten Gericht wegen Korruption seines Amtes enthoben. 2022 wurde Premierminister Imran Khan durch ein Misstrauensvotum gestürzt.
Einen wesentlichen Unterschied bildet hingegen die katastrophale Wirtschaftslage heute. Die Inflation lag im Juli bei 24,9 Prozent, das Haushaltsdefizit ist von 2,8 Milliarden US-Dollar im Vorjahr auf nun 17,8 Milliarden gestiegen. Moonis Ahmar, Dekan der sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Karachi, zog Ende Juli in der pakistanischen Zeitung "Tribune" eine Parallele zu Sri Lanka. Die pakistanische Elite, so Ahmar, sei wie die Elite Sri Lankas für den Wirtschaftskollaps verantwortlich.
Verteufelung religiöser Minderheiten lenkt ab
Indien steht wirtschaftlich sehr viel besser da als Pakistan, obwohl laut Experten noch mehr als 50 Prozent der indischen Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben. Auch mit dem Loblied auf den Hinduismus und der Verteufelung religiöser Minderheiten lenkt Modi von dieser sozialen Ungleichheit ab.
Bei allen Unterschieden zwischen beiden Ländern haben sie doch eines gemeinsam: Die offiziellen Feiern zum Unabhängigkeitsjubiläum werden paradoxerweise von jenen Kräften ausgerichtet, die für das Gegenteil der demokratischen Ideale der Gründerväter Jinnah und Gandhi stehen.